Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/306

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Seite des Gesetzes. Die im 19. Jahrhundert zur Herrschaft kommende wissenschaftliche Richtung, die ihrer Zeit den Beruf zur Gesetzgebung absprach, schnitt den Faden ab, noch ehe sich die Frage aufwerfen konnte, inwieweit die Ergebnisse jener Erwägungen auf die Gesetzgebung einer konstitutionellen Zeit ein- oder umzustellen wären. Erst die jüngste Zeit hat diesem Gegenstande wieder Sorgfalt zugewendet, ersichtlich angespornt durch die grossen Kodifikationen des privaten Rechtes.[1]

Unsere Zeit nimmt, sowohl was den Inhalt als die Form der Gesetzgebung anlangt, erkennbar ihren eigenen Standpunkt ein. Die Gesetzgebung ist eine „Kunst“, wie man sie mit einer glücklichen Wendung neuerlich wieder bezeichnet hat (Zitelmann). Sie kann so wenig wie jede Kunst der Technik entraten.

1. Allgemeines (Inhalt).

Sachlich ist das Gefühl der Staatsallmacht nüchterner Betrachtung, um nicht zu sagen bewusster Ablehnung gewichen. Die Grund- und Freiheitsrechte, der Stand der Selbstverwaltung stehen dem entgegen. Auch hier liegt der Wendepunkt im Zeitalter der französischen Revolution. „Le difficile est de ne promulguer que des lois nécessaires, de rester à jamais fidéle à ce principe vraiment constitutionel de la société, de se mettre en garde contre la fureur de gouverner, la plus funeste maladie des gouvernements modernes“ – deutlicher, schärfer lässt sich die neue Zeit kaum ankündigen, als es hier von dem älteren Mirabeau [2] geschieht. Gut deutsch fasst das einmal Uhland in die Worte: „Man hat sich nicht bloss vor der richterlichen Willkür zu hüten, sondern auch vor der legislatorischen.“[3]

Die Dinge nehmen wirtschaftlich ihren Lauf zunächst, ohne dass sich der Gesetzgeber um sie bekümmert; vorzeitiges Reglementieren kann sie aus der Bahn treiben, da die verwickelten Zusammenhänge sich heute schwerlich von einer Stelle, und nicht gerade immer von einer regierenden Stelle, aus übersehen lassen. „Bewegungen, die sich aus dem Leben der Völker und der Gestaltung der Staaten ergeben, werden durch Gesetze weder geschaffen noch beseitigt.“ Man darf diesen Satz, mit dem die erläuternden Bemerkungen zu dem Entwurfe eines österreichischen Auswanderungsgesetzes (1913) beginnen, sehr wohl aus ihrem sachlich engeren Zusammenhange heben. Gesetzliche Eingriffe m das Gebiet des Geistes oder des Gewissens haben ihre scharfe Kante, zumal in einem Staate mit religiös gemischter Bevölkerung. Ein gesetzgeberischer Schritt aber schwankend und zurück getan, geht wider das Ansehen des Staates. Der moderne Staat bedient sich deshalb seiner an sich unbegrenzten Gewalt mit Mass. Er soll nicht weiter eingreifen, als er zum Wohle der Allgemeinheit glaubt zu einer Rechtssatzung genötigt zu sein, also erst, wofern andere zwingende Einflüsse, wie Sitte, Religion, Kunstsinn usw. nicht wirksam genug erscheinen. Gewalt, wie sie im Gesetze liegt, muss nutzbringende Gewalt sein, die sich durch höheren Zweck rechtfertigt. Solche Nötigung besteht ja vielfach genug, namentlich aber da, wo ohne ein Gesetz widerstreitende wirtschaftliche oder auch geistig kulturelle Interessen den von höherer Warte aus notwendigen Ausgleich sonst nicht finden würden (soziale Missstände), oder wo Unsicherheit in die rechtlichen Grundlagen (Tarifvertrag, Kartelle, früher Scheck) oder unausgleichbare Verschiedenheit in der Rechtsprechung zur Rechtsgefährdung führt. Oder wo der Gesetzgeber das politische Band durch das Rechtsband festigen will (Einführung der Militärgesetzgebung nach Art. 61 der


  1. Vgl. den Vorstoss von Eugen Huber (Bern), Über die Realien der Gesetzgebung (Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1913). In Österreich: Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage betr. die Änderung . . . . des Allgem. Bürgerl. Gesetzbuchs, 78. Beilage zu den Stenogr. Protokollen des Herrenhauses 21. Session, 1912 S. 4–8, 204 (diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen, Herrn Dr. Peter Klein). Gény, la technique législative (in Le Code civil 1804/1904, livre du centénaire II 1905).
  2. Sur l’éducation publique p. 69. Das Wort stellt Cauer (1851) seiner Ausgabe von W. V. Humboldts Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792) voran. Humboldt beruft sich wiederholt auf Mirabeaus Schriften, sodass Edmond Villey (du rôle de l’etat dans l’ordre économique, 1882, Titelblatt) das Wort – W. v. Humboldt zuschreibt.
  3. Erwähnt bei Reinöhl, in Wahls Beiträgen zur Parteigeschichte II 1911 S. 159.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/306&oldid=- (Version vom 1.8.2018)