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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

das Recht zu finden, nicht zu erfinden,“ – wir wollten denn einen Absolutismus des Richtertums aufrichten, der gewiss im einzelnen Falle auch der Sache zum Segen dienen könnte, insgesamt aber bei der Vielheit der hier wirksam werdenden Instanzen, in der Unsicherheit des Rechtsstandes und in dem anwachsenden Misstrauen gegen die Justiz nur schlimmere Gefahren noch als der Absolutismus des Gesetzes oder des Gesetzgebers in sich bergen würde. Wo die Verfassung eines Landes, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Richter eine weitgehende Macht gegenüber dem Gesetze einräumt, da haben sich auch die Vorwürfe der Volksschichten, die sich durch den Urteilsspruch beeinträchtigt glauben, gerade gegen die Justizverwaltung, als wäre sie die eigentliche Trägerin der souveränen Gewalt der Nation, erhoben.[1]

Das Aufbrausen beginnt unbefangener Einschätzung zu weichen. Die mittlere Beurteilungslinie einer gesetzestreuen Jurisprudenz, die weder auf ein blosses Subsumieren beschränkt noch zu schrankenlosem Ermessen berufen ist, wohl aber zur „sinngemässen Gebotsergänzung“ (Heck), ist auch geeignet die Richtungsgegensätze ausgleichen. Dem Windstoss gleich, der die Tür aufschlägt, wenn’s so trifft, auch ein Fenster einstösst, ungeberdig, wo sich der Widerstand entgegenwirft, so zog die Freirechtsbewegung hin. Er hat die Luft gereinigt, und das ist nicht wenig: denn sie war stockig geworden und eine Wand von Missverstehen schob sich zwischen eine Praxis, die unbewusst einem unmessbaren Rechtsgefühle sich zuwandte, und eine Theorie, die sich noch grundsätzlich ablehnend hielt, nach einem Massstabe zu suchen für die auf Anerkennung dringenden neuen Werke. Indes schon der Vorstoss, von verschiedenen Seiten und mit verschiedenen Mitteln geführt, hat in mancher Hinsicht freier gegenüber dem Gesetze gestellt, als es in Deutschland üblich geworden war, hat sich die Notwendigkeit ersehen lassen, das Gesetz darnach zu formen, dass der Richter einen kräftigeren Rückhalt habe bei dem Suchen sachgemässer Entscheidung, die es nicht dabei bewenden lässt, von dem Gesetze nur auszugehen, die immer darauf achtet, auf welche Wirkung sie ausläuft – der Richter ist des Gesetzes Diener, nicht sein Sklave.

III. Gesetzgebungspolitik.

Die Frage nach der besten Gesetzgebung hat das 18. Jahrhundert vielfältig beschäftigt.[2] Sie steht da in engem Zusammenhange mit den breiten Erörterungen über die beste Art, die Glückseligkeit der Untertanen durch die Staatsgewalt zu befördern. Als Mittel erscheint das allmächtige Gesetz. Montesquieus „Esprit des lois“ wurde nicht mit scheuer Achtung nur genannt, wie es heut geschieht, sondern wie ein pädagogisches Werk in breiten Schichten, vor allem auch in den höfischen Kreisen gelesen.[3] Die Wirkungen sind vielfältig genug in den Kodifikationen des 18. Jahrhunderts zu spüren. Die Aufklärungszeit zeigt deshalb auch die ersten Versuche einer theoretischen Gesetzgebungspolitik[4], und zwar nicht bloss nach der sachlichen, sondern schon auch nach der formellen


  1. Vgl. die sozialistische Zeitschrift „Neue Zeit“ vom 12. 11. 1909 S. 242, 245; auch Loewy, Archiv für Sozialwissenschaft 1906 S. 721 f.
  2. Die ideale Anforderung an den Inhalt des Gesetzes möchte schon das corpus juris canonici – in c 2 D 4 – ausdrücken: Erit lex honesta, justa, possibilis, secundum naturam, secundum patriae consuetudinem, loco temporique conveniens, necessaria, utilis, manifesta quoque ne aliquid per obscuritatem in captionem contineat, nullo privato commodo, sed pro communi civium utilitate conscripta.
  3. Andreae, Beiträge zur Geschichte Katharinas II. 1912 S. 19–20. Die programmatische Erklärung der Kaiserin in der Instruktion für die Gesetzeskommission von 1767: „Gott verhüte, dass nach Beendigung unserer Gesetzgebung ein Volk auf Erden gerechter und folglich glücklicher sei als das unsrige. Der Zweck unserer Gesetze würde dann verfehlt sein, ein Unglück, das ich nicht zu überleben wünsche.“ Darüber die spöttischen Bemerkungen bei v. Haller, Restauration der Staatswissenschaft 1816 I 176.
  4. Vgl. Filangieri, scienza della legislazione 1780/1788, Bentham, introduction to the principles of moral and legislation 1789 (dazu v. Mohl, Geschichte u. Literatur der Staatswissensch. III, 1858 S. 610–612). K. S. Zachariae, die Wissenschaft der Gesetzgebung 1806. Dagegen erscheint 1837 eine „systematische Darstellung der Gesetzgebungskunst“ von Gerstäcker (sächsischer Advokat), der sich wiederholt mit diesen Fragen befasst hat. Bei den Franzosen finde ich gleichzeitig nur die „confection des lois“ behandelt. Unsere Zeit empfindet in der Handhabung des Rechtes in weiterem Masse das künstlerische Moment: Friedr. Stein spricht von der „Kunst der Rechtsprechung“ (1900); Ransson, essai sur l’art de juger 2, 1912; forner Brütt, E. J. Bekker (S. 194); Rumpf, Volk und Recht 1910; Finger behandelt „die Kunst des Rechtsanwalts“ 2, 1912.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/305&oldid=- (Version vom 1.8.2018)