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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Stellvertretung des Landesherren, Amtshilfe zwischen Behörden, gemischte wirtschaftliche Unternehmungen oder das sogenannte internationale Privatrecht. . . .

Zur Ausfüllung solcher und mancher anderer Lücken im Rechte muss der Richter weiter ausgreifen. Schon das österreichische bürgerliche Gesetzbuch von 1811 (§ 7) verwies ihn auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze“.[1] Und, kaum deutlicher, schreibt das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 in Art. 1 vor: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“[2] Diese Rolle des Richters als Gesetzgeber kommt ihm auch zu, wo dies nicht wie hier ausdrücklich lehrhaft ausgesprochen ist. Eine Willensentscheidung des Richters zur Ausfüllung der Lücken des Gesetzes (neben den Werturteilen, vgl. Rümelin) hat der Gesetzgeber stillschweigend in seinen Willen aufgenommen, weil es die Ordnung der menschlichen Verhältnisse so erheischt. Anderenfalls müsste man ein ausdrückliches Verbot von ihm erwarten. So ist eine analoge Strafsatzung ausgeschlossen, weil auf diesem Gebiete Schwankungen in der Erstreckung besonders empfindlich wirken würden. Hiermit ist jedoch keineswegs eine jede ins Strafrecht einschlagende Analogie oder noch freiere Ausfüllung einer Lücke verwehrt[3]; sie macht sich erforderlich z. B. für die Umwandlung von Geldstrafen in Freiheitsstrafen, wenn bei einer Abzahlung ein Rest ungedeckt ist, der unter dem gesetzlichen Mindestmasse für die Umwandlung verbleibt. Unterstützen mag ein Blick auf das internationale Recht, wie es in dem Haager Abkommen über die Errichtung eines Prisenhofes (1907) Art. 7 Abs. 2 formuliert ist:[4] Si des règles généralement reconnues n’existent pas, la cour statue d’apres les principes généraux de la justice et de l’équité.

Wo es an einem Richter fehlt, kann freilich die Ausfüllung der Lücke unmöglich werden. Man denke etwa an die Zweifelsfrage über die Gegenzeichnung bei der Entlassung eines Ministers. Solche Schwierigkeit zeigen letztens wieder die Vorgänge bei der Lösung der Union zwischen Schweden und Norwegen, als das norwegische Ministerium im Jahre 1905 seine Entlassung nahm und der König Oskar keine Minister fand, die die Verantwortung für seine Ablehnung der Sanktion des Stortingsbeschlusses über ein eigenes norwegisches Konsulatswesen übernehmen wollten.[5] Gerade in dieser Gruppe rechtlicher Erscheinungen wird man das Auge dagegen nicht verschliessen können, dass es sich hier unter Umständen gar nicht mehr um eine Lücke, sondern um eine notwendige Grenze des Rechts handelt.[6]

4. Freiheit des Richters gegenüber dem Gesetze?

Oft wiederholt ist jener in das corpus juris canonici (c. 3 D 4) aufgenommene Ausspruch des hl. Augustinus: In temporalibus legibus, quamquam de his homines judicent, cum eas instituunt, tamen cum fuerint institutae et firmatae, non licebit iudici de ipsis iudicare, sed secundum ipsas. Der Absolutismus der Aufklärungszeit hat das übertrieben; ein Argwohn gegen die malitia iudicum wirkte nach, bis in die Gesetzgebung der französischen Revolutionszeit hinein.[7] Er hat für den mässig begabten Richter, auf den man allein rechnen könne, mit dem Gesetze einen Urteilsschrank schaffen wollen, in dessen Fächern möglichst für jeden Fall die Lösung stecke. Die Gegenwart ist davon längst abgerückt. Sie richtet nur den Wegweiser auf für den mit dem Gemeingut der


  1. Hierzu jetzt in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des (österr.) Allg. Bürgerl. Gesetzbuchs 1911 die Beiträge von Dniestrzanski (Band II S. 1) und Wellspacher (Band I S. 173).
  2. Dazu die Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements I 1901 S. 37 und Eugen Huber, Bewährte Lehre (im Politischen Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1911).
  3. Entschieden Rumpf auf dem 3. deutschen Richtertag 1913 (Deutsche Richterzeitung V 779 f.); Spiegel, Gesetz und Recht S. 56.
  4. Allerdings nicht ohne Bedenken (Ullmann, Zeitschr. für Völkerrecht VII 348).
  5. Aall u. Gjelsvik, die norwegisch-schwedische Union, ihr Bestehen und ihre Lösung. 1912 § 41.
  6. Hierfür beachtenswerte Gründe Kaufmann, S. 139.
  7. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung, 1912, Kap. 10.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/303&oldid=- (Version vom 1.8.2018)