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sie sprechen für die hohe Einschätzung gerade des Gesetzesrechts nicht minder als Verbote oder Schranken der Erläuterung, wodurch die Gesetzgeber (Kaiser Justinian, Päpste, zu Ende des 18. Jahrhunderts für das preussische Landrecht) ihre grossen abschliessenden Gesetze zu schützen für nötig fanden. Das Streben nach einer „gesetzlichen“ Festlegung der freiheitlichen Individualrechte in der französischen Revolution und wieder in der deutschen Bewegung des Jahres 1848 liegt in derselben Linie. Wir haben es also mit einer nirgend verkannten Würdigung zutun. Gewisse Perioden, wie namentlich das 18. Jahrhundert, litten allerdings bereits unter einer Überschätzung in der Annahme gesetzlicher Beeinflussungsmöglichkeit, während weit zurückliegende Frühzeit der Geschichte uns eher das Beispiel naiver Genugtuung über das erreichte Gesetz bietet. Freilich wird man bei all diesen Auslassungen nicht übersehen dürfen, dass der Ruhm des Gesetzes mehr der Kodifikation gilt, die, indem sie zusammenfasst, Veraltetes beseitigt, und dass er erst in Ableitung dem Gesetze als solchem zuteil wird.

b) Darum wird auch die politische Bewegung, die aus dem absoluten Staat den konstitutionellen schuf, gerade zum Streben um den Anteil der Bevölkerung an der Gesetzgebung. Diese Zuziehung kommt in der Scheidung der staatlichen Funktionen zum Ausdruck, wie sie das 18. Jahrhundert schärfer formuliert hat – gesetzgebende, rechtsprechende, vollziehende Gewalt – und die zur Grundlage für den Aufbau der neuen Staatsordnung in den Konstitutionen der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) und des französischen Staates (1791) geworden ist. Die Verfassungsurkunden auf deutschem Boden zeigen in der Mehrzahl, und jedenfalls für die grösseren Staaten, den gleichen Grundzug; so auch die preussische vom 31. Januar 1850 Art. 62: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz erforderlich.“ Die Volksvertretung wird zur „gesetzgebenden“ Körperschaft selbst in der amtlichen Sprechweise (StGB. §§ 105, 197). Richtig ist dies nach den Aufgaben der Volksvertretung nicht, wenigstens erschöpft es sie nicht. Aber es beweist, dass man sich daran gewöhnt hat, die Betätigung des Parlaments mit der Gesetzgebung zu identifizieren. Hieran knüpft eine Wandelung in der Ausdrucksweise an, in der Begriffsgestaltung. Die gesetzte Rechtsregel, als die das Gesetz zuvor erschien, bildet zwar noch immer und fortgesetzt den Stamm aller Gesetze. Daneben wird auch all denjenigen Willensäusserungen der gesetzgebenden Körperschaften, die auf den für die Gesetzgebung bestimmten Weg verwiesen werden, die Bezeichnung „Gesetz“ beigelegt, ohne Rücksicht darauf, ob sie objektives Recht schaffen, wie bei der Aufnahme einer Anleihe für den Staat (Art. 103 Preuss. Verf. Urkunde) oder, wo sich darüber streiten lässt, ob dies der Fall ist, wie bei der Feststellung des Staatshaushaltsetats (Art. 99 Preuss. Verf. Urkunde). Hier ist also ein äusserlicher, der Form entnommener Umstand für die Bezeichnung bestimmend. Es war darum in systematischer Hinsicht ein Fortschritt, wenn man (namentlich seit Laband) für diesen Vorgang eine besondere Kategorie aufstellte: „Gesetz im formellen Sinne“. Nur das Gesetz im formellen Sinne ist Gesetz im konstitutionellen Sinne, zum Unterschiede jetzt von der Verordnung. Die Verfassungsurkunde ist die Scheidelinie, an der der Begriff „Gesetz“ seine Klarheit und Festigkeit gewinnt, indem die Buntheit einer früheren Periode verschwindet. Dieses Gesetz umspannt nach seinem Inhalte noch im wesentlichen Rechtsnormen, doch nicht notwendig bloss solche. Sonach schon deckt sich das Gesetz im formellen Sinne nicht mit Gesetz in dem überkommenen, durch die konstitutionellen Formen noch nicht bedingten, Sinne. Hinwieder ist nicht etwa dieses Gesetz „im materiellen Sinne“ nur ein (wenn auch hauptsächlicher Teil) des neuen formalisierten Gesetzesbegriffs; vielmehr sind herkömmlich manche sachlichen Gebiete, wenn auch von geringerer Bedeutung, der Normsetzung durch andere als die legislativen Instanzen verblieben: durch den Landesherrn, durch nachgeordnete Behörden oder als Statutarrecht der Kommunen und anderer öffentlichen Körperschaften. Mit Rücksicht auf diese inhaltliche Tragweite fasst die herrschende Lehre in theoretisch nicht ungerechtfertigter Zuteilung auch diese Satzungen unter einem Begriffe „Gesetz“ d. h. „Gesetz im materiellen Sinne“. Nur so lässt es sich auch innerlich rechtfertigen, dass der Gesetzgeber zuweilen ausdrücklich unter der Bezeichnung „Gesetz“ jedwede Rechtsnorm versteht[1] und ausdrücklich


  1. Binding, Handbuch des Strafrechts I 205, 206, Anm. 8.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/296&oldid=- (Version vom 1.8.2018)