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I. Wesen und Bedeutung des Gesetzes.

Das gleich Bleibende in der Erscheinungen Flucht, die Regeln, nach denen sich die Vorgänge in der belebten und unbelebten Natur entwickeln, das Seiende, sowohl wie das Sollende, die Weisungen, nach denen der Mensch sein äusseres Verhalten einzurichten hat – in beiden Fällen spricht man von „Gesetzen“. Seine ursprüngliche Bedeutung zeigt das Wort im letzteren Sinne, die mit einer Einwirkung auf den menschlichen Willen rechnet, während Gesetze der Sprache oder der Wirtschaft oder der Geschichte (Rümelin: 1878), während Naturgesetze oder die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben (v. Mayr: 1877) oder in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen (A. Wagner: 1864) durch Beobachtung des mit Notwendigkeit Wiederkehrenden gewonnen werden.[1]

1. Der Wortsinn weist beim Gesetze zunächst nur auf Bestimmungen hin, die in irgend einer Weise aufgestellt worden sind, ohne dass etwas mehr erfordert wird als das Wort, das einen festen Stand, eine Bindung bewirkt. Es ist nicht notwendig ein einseitiger Akt darunter zu verstehen. Auch der Vertrag d. i. die Einigung der Beteiligten über ein Verhalten, wird zum „Gesetz“ der Parteien (lex contractus). Doch ist dem Sprachgebrauche der Gegenwart der „Vertrag als Gesetz“ nur wenig geläufig, höchstens in einer übertragenen oder eingeschränkten Verwendung, insofern das Abkommen nicht zwischen Privatpersonen, sondern zwischen Staaten besteht, für den internationalen Vertrag; die Anerkennung des „internationalen Gesetzes“[2] bleibt einer künftigen Zeit vorbehalten. Auf die gleiche oder ähnliche Wirkung ist es hier abgestellt. Und so ist es nicht unverständlich, wenn die Sprache des gewöhnlichen Lebens heut bei der Arbeitsordnung für Fabrikbetriebe oder bei Tarifverträgen, also in Fällen, wo zwischen gewissen Machtfaktoren ein Gleichgewicht hergestellt werden soll, zu der Bezeichnung als „Gesetzen“ neigt. Das gewerbliche Leben gewinnt einen konstitutionellen Einschlag.

Doch ein wesentlicher Unterschied bestimmt die Grenze für das „Gesetz“ – die Energie der Satzung, die um so stärker ist, je unabhängiger sie hingestellt werden kann, je weniger sie in ihrer Aufrichtung von einem Zusammenwirken mehrerer und mit verschiedenen Interessen Beteiligter abhängt. Es war deshalb z. B. wohlbedacht, wenn das preussische Gesetz vom 10. Juni 1854 die Wiederherstellung der Vorrechte der mittelbar gewordenen deutschen Reichsfürsten und Grafen „durch königliche Verordnung“ bestimmte, und begreiflich war der Widerspruch des Abgeordnetenhauses gegen die trotzdem durch „Rezesse“ mit den Mediatisierten vorgenommene Regelung. Das Gesetz war seit Alters für den Einzelwillen (unvermeidlich dann auch zuweilen den Eigenwillen) des Machthabers im Staate kennzeichnend: quod principi placuit, legis habet vigorem. Mochte dies die Gesamtheit der Untergebenen betreffen – als Staatsgesetz – oder nur die Mitglieder der regierenden Familie – Hausgesetz –. Dass ein Machtbereich auch durch die Zugehörigkeit zu einer Bekenntnisgemeinschaft gegeben sein kann, kommt in der Bezeichnung „Kirchengesetz“ zum Ausdruck.[3] Zur Zeit versteht man unter dem Gesetz schlechthin das Staatsgesetz; von diesem allein soll deshalb hier die Rede sein.

Über Abstufung und Abgrenzung „Reichsgesetz“ – „Landesgesetz“ vgl. unten Ziff. 4.

2. Das Gesetz dient der Ordnung unter den Menschen und teilt zu dem Zwecke dem einzelnen seine Herrschaftsmöglichkeit über Person und Sache zu. Das Gesetz trifft damit im wesentlichen die „Freiheit der Personen oder das Eigentum der Staatsangehörigen“ (so z. B. die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818, Titel VII § 2.[4]) Und die Einwirkung


  1. Jetzt Breysig, Stufenbau und Gesetze der Weltgeschichte 1905; Franz Eulenburg, Über Gesetzmässigkeiten in der Geschichte (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 35, 1912 S. 299 f.).
  2. L. Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts (Festschrift für Binding 1911, II 163). Inzwischen betrachtet sich die Interparlamentarische Konferenz als Zentralstelle für alle Pläne zur Schaffung internationaler Gesetze (18. Tagung, Haag 1913).
  3. Allgemein sei verwiesen auf Ernst Meier, die Rechtsbildung in Staat und Kirche 1861, allerdings mehr für das Grundsätzliche als für das noch geltende Recht.
  4. Die Formel ist nicht erschöpfend, wird aber typisch; vgl. z. B. die preussische Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes vom 22. Mai 1815 § 4, Grundgesetz für Sachsen-Weimar vom 16. Oktober 1850 § 4 Z. 6. Aufklärung über die Geschichte der Freiheit- und Eigentumsformel bringt jetzt Franz Rosin, Gesetz und Verordnung nach badischem Staatsrecht 1911. S. 15–61; ausserdem Hubrich im Verwaltungsarchiv Band 17. 1909, S. 48, 57.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/293&oldid=- (Version vom 1.8.2018)