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sich durchzusetzen. Die genannten Wissenszweige dienen daher gerade dem in Staatssachen Handelnden. Er aber heisst Politiker (Staatsmann). Sie sind die Wissenschaften für den Staatsmann. Wenn Politik nur im Sinne von Zweckmässigkeitslehre gebraucht wird, so findet dies seine Erklärung darin, dass die Politik von jeher in erster Linie Zweckmässigkeitslehre war.

Die Griechen erblickten in der Politik einen Teil der Ethik.[1] Sittlich ist, ein tüchtiger Staatsbürger zu sein. Der sittliche Staatsbürger ist der tüchtige. Politik war deshalb vor allem die Lehre von dem besten Staatsbürger. So bleibt es auch im Mittelalter und der Renaissancezeit. Ars politica ist wesentlich Tüchtigkeitslehre, nur der veränderten Staatsform entsprechend nicht mehr Lehre vom tüchtigen Staatsbürger, sondern vom tüchtigen Fürsten. Die Werke von Thomas Aquinas (+ 1274) De regimine principum und Machiavelli Il principe sind Fürstenspiegel. Zwischen Machiavelli einer- und Aristoteles und dem Aquinaten andrerseits besteht nur der Unterschied, dass Machiavelli seine Zweckmässigkeitslehre von Ethik und Theologie gelöst hat.[2] Im übrigen aber behandeln alle drei die Probleme in gleicher Weise. Die Einteilung der Staatsformen z. B. erfolgt sowohl bei Aristoteles und Thomas Aquinas wie bei Machivelli nach Zweckmässigkeitsmomenten. Wesentlich sind ihnen nicht Zahlen-, sondern Eigenschaftsunterschiede. Die griechische Staatslehre sieht auf die sittlichen Unterschiede. Für zweckmässig erklärt sie, dass die Regierenden die Herrschaft im Gemein- und nicht in selbstsüchtigem Interesse ausüben. Sie unterscheidet darnach rechte Verfassungen und Abweichungen hiervon; Politien und Despotien, drei gute Verfassungen und drei schlechte.[3] Machiavelli teilt ein in Prinzipate und Republiken. Er will damit sagen: unfreie und freie Staaten. Das ist durchaus aristotelisch. Aristoteles lehrt: Freiheit ist, wo nicht Selbstsucht herrscht; Selbstsucht herrscht nicht, wo die Trefflichsten herrschen; solche gibt es nicht; also ist nur Volksherrschaft möglich und diese ist selbstlos lediglich, wenn Gesetze herrschen. Das monarchisch gerichtete Mittelalter sagt: lex facit „regem“ d. h. den guten Herrscher; ein guter Fürst ist der Herrscher, der sich an Gesetze hält.[4] Und ebenso lehrt Machiavelli: besitzt der Staat eine gute Rechtsordnung, so bedarf es nicht so guter Regenten.[5] Durch Jahrhunderte also Zweckmässigkeitslehre der Hauptteil der Politik. Da liegt es nahe, dass der Name des Ganzen zum besonderen Namen des Hauptteiles wird.

C) Die wissenschaftliche Klarheit verlangt, dass, wenn möglich, Politik als Wissenschaft nur Eines bedeutet. Dem trägt die Theorie etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Rechnung. Mehr und mehr wird unter Politik nur die Zweckmässigkeitslehre verstanden (Bluntschli, Holtzendorff). Alles, was man sonst Politik nannte, muss dann anders bezeichnet werden. Ein Name hat sich dafür eingebürgert: allgemeine Staatslehre. Den Gegensatz bilden die besonderen Staatslehren, die empirische (historische) und philosophische, die politische und die juristische. Fest steht der Sprachgebrauch nicht. Roscher und Treitschke sagen nicht allgemeine Staatslehre, sondern Politik. Gierke identifiziert gerade entgegengesetzt „Staatslehre“ und Politik. Die Staatslehre, bemerkt er, fasst alle Vorgänge des Staatslebens unter dem Gesichtspunkte einer Zwecktätigkeit auf.[6] Vorkommt auch, dass für allgemeine Staatslehre Staatslehre gesagt und ihr Politik und Staatsrecht gegenüber gestellt wird.

D) Gar nicht heranziehen zur klaren Abgrenzung der Gebiete der politischen Wissenschaft lässt sich der Ausdruck Staatswissenschaft (science politique, political science). Staatswissenschaft hat noch mehr Bedeutungen als Politik und Staatslehre. Es ist darunter zu verstehen

1. das Wissen vom Staate, die Wissenschaft, deren Gegenstand der Staat und nur der Staat ist. Ihre Teile sind Staatsrechtslehre, Politik, allgemeine Staatslehre (Verfassungslehre) und Verwaltungslehre.


  1. Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft 1896, S. 70, 71, 126.
  2. Menzel, Machiavelli Studien in Grünhuts Zeitschrift für Privat- und öffentl. Recht 29, 565.
  3. Über Thomas Aquinas Rehm, Geschichte der Staatsrechtsw. S. 179.
  4. Rehm, Allgemeine Staatslehre 1899 S. 211.
  5. Alfr. Schmidt, Machiavelli und die allgemeine Staatslehre. 1907 S. 3, 40 ff.
  6. O. Gierke, Begriff und Aufgaben der Staatswissenschaft. Fortbildung in der Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 4 (1910), 489.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/29&oldid=- (Version vom 1.8.2018)