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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Dient die Sozialpolitik der Gemeinden der Hebung der minderbemittelten Volksklassen, so entlastet sie die Armenpflege, die eine der wichtigsten Aufgaben der Gemeinden ist seit dem Ausgange des Mittelalters. Wie auf allen Gebieten der öffentlichen Fürsorge hat auch auf diesem der Gedanken der Vorbeugung sich Geltung verschafft: Armenpflege heisst heute nicht nur Beseitigung eines zeitigen Notstandes, sondern Befreiung des Bedrängten aus der Lage, die die Not bedingt.

Eine besondere Aufmerksamkeit der an der Gemeindepolitik Beteiligten verlangt heute die Frage der Gemeindebetriebe. Während die Gemeinden noch vor nicht allzu langer Zeit, wenn sie wirtschaftliche Bedürfnisse befriedigen wollten, dazu allein die Rechtsform des Kauf- oder Werkvertrags benutzten, der mit einem Unternehmer oder Händler geschlossen wurde, gehen die Gemeinden, wie auch der Staat, jetzt dazu über, eine grosse Anzahl von wirtschaftlichen Gemeindebedürfnissen selbst zu befriedigen, überdies aber durch Gemeindebetriebe den einzelnen Mitgliedern der Gemeinde Lebensbedürfnisse aller Art zu beschaffen, so dass in gewissem Sinne eine Rückentwicklung stattfindet zu älteren Rechtszuständen, in denen die Gemeinde in der Hauptsache ein Wirtschaftsverband war. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr wie in der Gemeinde älterer Art um landwirtschaftliche Gemeindebetriebe, sondern es handelt sich jetzt zumeist um industrielle und Verkehrs-Unternehmungen, und die Frage, wie weit die Gemeinde gehen darf in der eigenen Organisation solcher Unternehmungen, ist noch heute eine offene. Es mehren sich die Stimmen, die der Entwicklung ein Halt zurufen wollen, da sie für die weitere Gestaltung unserer Volkswirtschaft, wie auch unseres öffentlichen Rechts Gefahren in der Gemeinderegie sehen. Indessen wird man sagen müssen, dass bis heute die Entwicklung noch nicht den Punkt erreicht hat, wo ihr Einhalt geboten werden muss. Die Grenze für eine gesunde Ausbildung der Gemeindebetriebe wird erst dann gegeben sein, wenn die Gemeindebetriebe die organisatorischen Kräfte der Gemeinde zu übersteigen beginnen. Die Unentbehrlichkeit der Gemeindebetriebe überhaupt ist am deutlichsten zu erkennen einerseits in der Frage der Wasserversorgung, andererseits in der Frage der Entwicklung des Verkehrswesens. Eine zweckmässige Wasserversorgung kann heute im Wege des privaten Unternehmens einfach um deswillen nicht mehr durchgeführt werden, weil zu dieser Wasserversorgung die Herrschaft über ein grösseres Quellgebiet gehört, die oft nur im Wege der Enteignung zu erlangen und nur unter dem Gesichtspunkt des öffentliches Interesses richtig auszugestalten ist. Und was die Beschaffung von Verkehrsmitteln, den Bau von Strassenbahnen insbesondere betrifft, so wird das Privatunternehmen diese immer nur unter dem Gesichtspunkt der Erzielung möglichst grosser Einnahmen betreiben können und betreiben dürfen, für die Gemeinde aber kommen, wie für den Staat, hierbei ganz andere Erwägungen in Betracht. Wie für den Staat der Bahnbau eines der wichtigsten Kriegsmittel ist, und folglich nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität unternommen werden darf, so ist für die Gemeinde der Strassenbahnbau ein unentbehrliches Mittel für die richtige Ausgestaltung des Stadtgebiets und für eine zweckmässige Besiedelung. Nur eine Gemeinde, die die Herrschaft über ihre Strassen und über ihre Strassenbahnen besitzt, wird in der Lage sein, eine wirklich gesunde Boden- und Wohnungspolitik treiben zu können. Auf der anderen Seite darf natürlich nicht verkannt werden, dass die Vermehrung des Beamtenheeres der Gemeinden und die Bürokratisierung des Betriebes zu grossen Uebelständen führen kann. Die Mittel, dem entgegenzuwirken, sind aber vorhanden insofern, als die Gemeinde keineswegs gezwungen ist, die in ihren wirtschaftlichen Betrieben angestellten Personen in das Beamtenverhältnis überzuführen, und auf der anderen Seite gerade die Gemeinden in ihrer Organisation besonders wertvolle Mittel besitzen, um bürokratischen Neigungen entgegenzuwirken. Denn die Verwaltungsdeputationen, in denen neben den Berufsbeamten Stadtverordnete und Bürger mitwirken, sind wie kaum ein anderes Organ unserer gesamten Verwaltung geeignet, in die Verwaltung den Geist hineinzutragen, der in neuerer Zeit nicht selten für Staat und Gemeindebetriebe verlangt wird, den kaufmännischen Geist, und damit verbunden Freiheit und Entschlossenheit.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/251&oldid=- (Version vom 30.7.2021)