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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

genug das Wort von der Vertretung des ganzen Volkes zum leeren Schall, ja fast zur Satire. Politische und wirtschaftliche Verschiedenheiten innerhalb einer Nation werden niemals zu vermeiden sein. Schwere Gefahren aber werden dann befürchtet werden müssen, wenn Gegensätze religiöser oder konfessioneller Art, wenn Gegensätze nationalen Charakters innerhalb eines und desselben Staates bestehen und die Parteibildung innerhalb der Volksvertretung beeinflussen oder gar beherrschen. Ebenso werden die Verhältnisse schwierig, wenn in der Parteibildung die Gegensätze von Grundanschauungen über die Form des Staatswesens, insbesondere monarchisch oder republikanisch oder über die Grundlagen des Erwerbslebens, sich ausprägen und um die Herrschaft ringen.

Jede derartige Zersplitterung des Parlaments nötigt, falls nicht von vornherein eine gegebene feste Parteimehrheit vorhanden ist, zu Verhandlungen unter den Parteien behufs künstlicher Herstellung einer Mehrheit zum Zwecke einer politischen, in erster Linie der gesetzgeberischen Arbeit im Staate. Durch die Notwendigkeit von Verhandlungen über solche Parteiverbindungen wird die Kraft des politischen Lebens naturgemäss geschwächt und oft genug müssen, damit überhaupt eine Mehrheit gewonnen werden kann, Zugeständnisse gemacht werden, die die politische Überzeugungstreue auf schwere Proben stellen, ja selbst die politische Moral gefährden. Die staatsbürgerliche Erziehung des Volkes muss demgemäss als eine der höchsten Aufgaben betrachtet werden, um nach dieser Richtung eine weitere Gesundung des politischen Lebens und Vereinfachung der Parteiverhältnisse herbeizuführen. Immer aber werden im Stückwerk menschlicher Dinge Parteien bestehen und der ehrliche Kampf der Parteien wird auch das Beste des Volkes fördern. Aber die politische Erziehung wird mit aller Kraft dahin zu wirken haben, dass der hohe Idealismus des Verfassungswortes von der Vertretung des ganzen Volkes durch jeden einzelnen Volksvertreter wenigstens insoweit zur vollen Geltung kommt, dass nationale Gegensätze innerhalb eines Parlaments überwunden und möglichst ausgeschieden, dass religiöse, konfessionelle, Kämpfe aus der weltlichen Politik beseitigt werden und dass die ehrliche Überzeugung anderer, selbst wenn es sich um politische Kämpfe um die Grundlage des Staates handelt, nicht durch vergiftete Formen des Redekampfes verletzt werden. In grossen Staaten mit weitgehender Parteizersplitterung wird das politische Leben gebieterisch fordern, dass Parteien, die ihren Grundanschauungen nach sich dauernd einigen können, diese Einigung herbeiführen; unter Umständen wird davon überhaupt die ganze politische Weiterentwicklung eines Volkes und Staates bedingt sein. Lediglich die politische Erfahrung kann die Richtschnur geben, nach der die Möglichkeit und Dauerhaftigkeit einer solchen Parteiverbindung gemessen werden muss.


6. Hat das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes dahin geführt dass die früher in besonderen Staatsbildungen gesonderten Volksbestandteile zu einer Volkseinheit auch staatlich zusammengefasst sind, so wird der Weg dieser Entwicklung auch eine Antwort auf die Frage enthalten, ob nach Erreichung dieses Zieles: Volkseinheit als Staatseinheit, einem Teile des Volkes bezw. der diesen Teil darstellenden Staatsbildung eine besondere Vormachtstellung zukommt und gewährt werden muss. In den meisten modernen Staatsbildungen ist dies nicht der Fall, das Volk vielmehr zu voller Einheit in der Form des Einheitsstaates herangereift. Fast alle modernen Staaten zeigen uns diesen Entwicklungsprozess, zuletzt noch Italien; auch in den Vereinigten Staaten von Amerika scheint dies zu immer stärkerem Ausdruck zu kommen und in dem Bundesstaate der Union das föderative Element immer mehr zurückzutreten vor dem Moment der Staatseinheit (Imperialismus).

Besondere Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht im Deutschen Reiche. Auch hier bildet seit 1866/1870 die Grundlage die auf der Volkseinheit beruhende Staatseinheit und sie hat durch die Reichsverfassung und die praktische Entwicklung des deutschen Staatslebens seit 1866 zweifellos feste Grundlagen gewonnen. Aber nicht wie in Italien hat dieser Einigungsprozess auch zu einem wirklichen Einheitsstaat geführt. Dies war nie beabsichtigt und widersprach auch der ganzen deutschen Geschichte, ja vielleicht dem deutschen Wesen. Das was an Einheit erreicht wurde, ist vielmehr die Einheit einer Vielheit in der Form des sogenannten Bundesstaats, der im Verhältnis zum Einheitsstaat ganz zweifellos ein viel schwierigeres Staatsproblem darstellt. Die Erfahrung von vier Jahrzehnten hat aber erwiesen, dass dieses von der Meisterschaft Bismarcks abgewogene

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)