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Stück Gewalt übertragen ist, werden häufig einen falschen Gebrauch davon machen. Der Staat ist eben eine menschliche Einrichtung und mit den Mängeln alles Menschlichen behaftet.

Wie ist es nun aber mit dem Zustand, den man als etwas Besseres an die Stelle des Staates setzen möchte? Hat er geringere Mängel, und ist er überhaupt möglich? Während der Anarchismus den Mängeln des Staates mit grossem Eifer nachgegangen ist, hat er sich über diese Fragen mit erstaunlicher Leichtigkeit hinweggesetzt. Bei ihrer sorgfältigen Prüfung muss sich herausstellen, dass der von den verschiedenen Vertretern des ideologischen Anarchismus an Stelle des Staates empfohlene Gesellschaftszustand nicht etwa nur mit Mängeln behaftet, sondern völlig unmöglich ist.

Proudhon möchte an die Stelle des Staates ein ungeheures Netz von freien, vertraglichen Vereinigungen setzen. Er vergisst, dass wirklich freie Vereinigungen, denen jedes Mitglied nur kraft seines wohlüberlegten Ermessens angehört, einzig innerhalb des Staates möglich sind. Gegenwärtig schützt der Staat den Einzelnen gegen die Vereine, etwa den Arbeiter dagegen, dass ihn eine Gewerkschaft durch Drohungen zum Beitritt nötigt oder durch ihre Satzungen lebenslang an sich fesselt oder wegen seines Fernbleibens verfolgt. In Proudhons Zukunftsgesellschaft würde der Einzelne völlig den Vereinen ausgeliefert sein. Ein Handwerker z. B. müsste dem Verein, der in seiner Stadt die Sicherheit des Lebens und Eigentums gewährleistete, unweigerlich angehören, die von diesem vorgeschriebenen Beiträge leisten und sich überhaupt allen seinen Anordnungen, auch wenn sie ihm noch so wenig gefielen, unterwerfen, denn ohne die Zugehörigkeit zu diesem Verein wäre er ja völlig rechtlos und könnte von jedermann nach Belieben beraubt, misshandelt oder gar getötet werden. Ebenso wäre er genötigt, auch noch einer Menge von anderen Vereinen anzugehören, namentlich allen denen, deren Mitgliedschaft jener erste Verein von ihm verlangen würde. Diese Vereine müssten sich nun aber wieder mit anderen Vereinen der gleichen Stadt und der umliegenden Gebiete zu umfassenden Vereinen zusammenschliessen, nicht nur zur Vermeidung von Streitigkeiten und förmlichen Kriegen, sondern auch zur gemeinsamen Lösung von Kulturaufgaben. So würde unser Handwerker unabhängig von seinem Willen einer ungeheuren Gemeinschaft angehören, die angeblich nur auf freien Verträgen beruhte, in Wirklichkeit aber nichts anderes wäre als der heutige Staat. Die freien Vereinigungen Proudhons können nicht an die Stelle des Staates treten, weil sie das Vorhandensein des Staates zur Voraussetzung haben.

Nach Stirner soll an die Stelle des Staates ein Zusammenleben treten, das darauf beruht, dass jedermann ohne Abschliessung von Verträgen lediglich den eigenen Vorteil verfolgt. Er macht sich nicht klar, dass wenn jeder seinen eigenen Vorteil verfolgt, es eben zum Abschluss von Verträgen kommen muss. Denn der Vorteil jedes Einzelnen fordert, dass viele ihre Kräfte dauernd zu einheitlichen Aufgaben vereinigen, etwa zur gemeinsamen Erzeugung von Gütern und zu deren Austausch, zur Verhütung von Unglücksfällen und zur Versicherung gegen solche. Da aber die Menschen weder Bienen noch Ameisen und nicht durch Instinkt fest an die Verfolgung gemeinsamer Ziele gebunden sind, so ist eine solche dauernde Kräftevereinigung nur mit Hilfe von Verträgen möglich. Die Aufforderung Stirners, ohne Abschliessung von Verträgen den eigenen Vorteil zu verfolgen, ist deshalb unausführbar. Ein Gesellschaftszustand, bei dem dies der Fall ist, kann nicht an die Stelle des Staates treten.

Nach Godwin und Tolstoj endlich soll der Staat durch ein Zusammenleben ersetzt werden, bei welchem jeder ohne Abschliessung von Verträgen sich nur von der Nächstenliebe oder, was dasselbe ist, von dem Gedanken an das allgemeine Wohl leiten lässt. Beide übersehen, dass die Nächstenliebe nur eine Pflicht der Menschen ist, aber nicht ihre herrschende Eigenschaft. Es lässt sich nicht erwarten, dass die Menschen sich jemals allgemein von der Nächstenliebe leiten lassen werden. Die Aufforderung Godwins und Tolstojs, dies zu tun, ist die Aufstellung eines Ideals und deshalb unausführbar. Auch ein Gesellschaftszustand, bei dem jeder einzig auf Grund der Nächstenliebe das um der Gesamtheit willen Gebotene tut, kann nicht die Nachfolge des Staates übernehmen.

Man verkennt immer eins. Der Staat ist nicht irgendwo willkürlich gemacht worden. Überall, wo bestimmte Bedingungen vorlagen wie feste Wohnsitze und eine dichtere Bevölkerung, ist er von selbst geworden. Gelänge es, ihn vorübergehend zu beseitigen, so würde er, eben weil diese Bedingungen dauernd gegeben sind, alsbald wieder zur Entstehung kommen. Der Staat lässt sich

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/200&oldid=- (Version vom 25.7.2021)