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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Aber dadurch hat sich die Bedeutung des Staates in keiner Weise verringert. Der Staat hat kaum eine seiner früheren Aufgaben aus der Hand gegeben, wohl aber eine Fülle von neuen übernommen. Man braucht nur an das mächtige Anwachsen der Heere und Flotten zu denken oder an das ungeheure, in so kurzer Zeit errichtete Gebäude der Arbeiterversicherung. Die Steigerung der staatlichen Aufgaben kommt deutlich zur Anschauung in den immer stärker wachsenden Steuerlasten, der Staat erhebt die Steuern nur, um sie für staatliche Zwecke zu verwenden. Dieses Anwachsen der Staatstätigkeit ist durchaus im Sinne der öffentlichen Meinung: die sozialpolitische Auffassung des Staates beherrscht heute die Völker, und selbst der Liberalismus, der ihr früher am entschiedensten widerstrebte, hat sie sich aneignen müssen.

Dass ungeachtet des mächtigen Anwachsens der freien Vereinigungen der Staat immer neue und grössere Aufgaben übernehmen konnte, beruht auf dem Fortschritt der Kultur. Der Fortschritt der Kultur entzieht den Einzelnen immer mehr seiner Vereinzelung und verflicht sein Leben enger und enger mit dem der anderen. Diese Verflechtung schafft immer neue Gebiete für den freien Zusammenschluss, sie erweitert aber zugleich die Aufgaben des Staates.

Bei der Voraussage des naturwissenschaftlichen Anarchismus, der Gang der Entwicklung werde den Staat demnächst notwendig zum Verschwinden bringen, ist der Wunsch der Vater des Gedankens, ebenso wie bei der entgegengesetzten Voraussage des modernen „wissenschaftlichen“ Sozialismus. Die Sozialdemokratie möchte die Aufgaben des Staates ins Ungemessene steigern und die gesamte Produktion in seine Hände legen, und um dem eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, deutet sie die gegenwärtige Entwicklung dahin, dass sie notwendig zu einer solchen Machtsteigerung des Staates führen müsse. Der Anarchismus anderseits möchte den Staat beseitigt sehen, und um dies wissenschaftlich zu begründen, gibt er der Entwicklung gerade die entgegengesetzte Deutung.

Aber angenommen einmal, der Staat sei dem Untergang verfallen, die Entwicklung führe mit unabwendbarer Notwendigkeit zu seiner Beseitigung, so würde hieraus doch in keiner Weise folgen, dass wir diese Entwicklung zu fördern hätten. Es gibt erwünschte und unerwünschte Entwicklungen: mit Recht trachten wir danach, jene zu fördern, diese aber aufzuhalten. Dem körperlichen und seelischen Wachstum eines Kindes suchen wir durch richtige Ernährung, Abhärtung und gute Erziehung Vorschub zu leisten. Ein Greis dagegen bemüht sich, den Verfall seines Körpers und Geistes durch Enthaltsamkeit, mässige Bewegung, ärztliche Überwachung nach Möglichkeit zu verlangsamen. Selbst wenn die Entwicklung dahin ginge, den Staat zu beseitigen, so hätten wir ihr doch nur dann Vorschub zu leisten, wenn wir annehmen müssten, dass der Staat etwas Schlechtes und Schädliches wäre.

Die Begründung, mit welcher der naturwissenschaftliche Anarchismus Bakunins und Kropotkins dem Staate die Daseinsberechtigung abspricht, ist falsch. Wir haben keine Anzeichen dafür, dass der Staat demnächst untergehen wird, und wenn es der Fall wäre, so hätten wir darum doch keinen Grund, eine solche Entwickelung zu fördern.

8. Kritik des ideologischen Anarchismus.

Der ideologische Anarchismus, die Richtung Godwins, Stirners, Proudhons und Tolstojs, nimmt an, dass der Staat schlecht sei und dass deshalb etwas Besseres an seine Stelle gesetzt werden müsse: nach Proudhon ist dies ein System von freien vertraglichen Vereinigungen, nach Godwin, Stirner und Tolstoj ein Zusammenleben, das sich lediglich auf eine bestimmte Gesinnung jedes Einzelnen gründet. Auch diese Lehre ist unrichtig.

Der Staat hat seine Mängel, daran ist nicht zu zweifeln. Gleichviel in wessen Händen die höchste Gewalt ist, sie wird in der Regel nicht dem Würdigsten übertragen sein: in der Monarchie muss man sich glücklich schätzen, wenn auf eine Reihe von schlechten oder mittelmässigen Herrschern dann und wann ein bedeutender folgt, und in der Republik, wenn die blinde, öffentliche Meinung nach manchem zungenfertigen Demagogen auch einmal einen tüchtigen und ehrlichen Mann auf den Schild erhebt. Die zahlreichen Menschen, denen im Staate ein grosses, kleines oder winziges

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/199&oldid=- (Version vom 25.7.2021)