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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Vorteil im Auge habe. Proudhon, Bakunin und Kropotkin stellen dann die künftige Gesellschaft auf die solidere Grundlage des Vertrages und lassen an die Stelle des Staates ein kunstvolles und umfangreiches System vertraglicher Gemeinschaften treten. Tolstoj kehrt auch hier zu den Anfängen zurück, indem er jeden Vertrag verwirft und als Grundlage der künftigen Gesellschaft nur die christliche Gesinnung des Einzelnen zulässt.

Ein bestimmter Standpunkt gegenüber dem Eigentum gehört an sich nicht zum Anarchismus, indessen hat dieser sich der Bedeutung des Problems doch niemals entzogen, und so hat auch hier eine deutliche Entwicklung stattgefunden. Der primitive Anarchismus Godwins und Stirners verwirft das Eigentum in jeder Gestalt, an seine Stelle soll eine Güterverteilung treten, die sich lediglich darauf gründet, dass jedermann das Wohl der Gesamtheit oder (bei Stirner) den eigenen Vorteil im Auge hat. Proudhon lässt dann das Privateigentum oder wenigstens etwas ihm sehr Ähnliches ohne Einschränkung zu. Bakunin ist der Meinung, dass in der künftigen Gesellschaft Privateigentum nur noch an den Konsumtionsmitteln bestehen werde, während die Produktionsmittel unter allen Umständen Gesellschaftseigentum sein würden. Nach Kropotkin endlich ist in der künftigen Gesellschaft das Privateigentum gänzlich ausgeschlossen, die Konsumtions- wie die Produktionsmittel werden nur noch Gesellschaftseigentum sein. Diese Entwicklung, die von der Verwerfung des Eigentums zu dessen Anerkennung und hier vom Individualismus über den Kollektivismus zum Kommunismus führt, bricht wieder bei Tolstoj ab: gleich den ersten Anarchisten verwirft er jede Form des Eigentums und gründet die Güterverteilung der künftigen Gesellschaft einzig auf die Nächstenliebe jedes Einzelnen.

Eine ausgesprochene Entwicklung tritt uns endlich auch bei der Frage entgegen, auf welche Weise der Übergang von dem gegenwärtigen staatlichen Leben zu dem neuen Gesellschaftszustande erfolgen soll. Godwin spricht sich ebenso unbestimmt für friedliches wie Stirner für gewaltsames Vorgehen aus. Ein deutliches Bild von dem einzuschlagenden Wege macht sich erst Proudhon. Er schlägt vor, durch Schaffung vorbildlicher Vereine mit staatlichen Aufgaben die Überflüssigkeit des Staates darzutun und so dessen Auflösung auf gesetzlichem Wege herbeizuführen. Bakunin nimmt an, dass der Umschwung nur durch eine gewaltsame Revolution erfolgen könne, und betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten, durch ihre Propaganda diese Revolution vorzubereiten und zu beschleunigen. Kropotkin arbeitet diesen Gedanken aus, indem er als bestes Mittel der Propaganda die Propaganda der Tat empfiehlt. Von friedlichen gelangt der Anarchismus so zu immer gewaltsameren Mitteln, nur Tolstoj kehrt auch hier zu den Anfängen zurück, indem er jede Gewalt verwirft und nur dort, wo der Staat nach seiner Meinung Unchristliches fordert, den passiven Widerstand gebietet.

6. Der Anarchismus der Gegenwart.

Der Anarchismus der Gegenwart ist nichts Einheitliches. Keine der verschiedenen anarchistischen Lehren, die uns in der Entwicklungsgeschichte des Anarchismus entgegentreten, hat genug Überzeugungskraft gehabt, um alle diejenigen an sich zu fesseln, die dem Staate die Daseinsberechtigung versagen.

Anhänger Godwins dürfte es allerdings nicht mehr geben. Auch an Stirner schliesst sich heute kaum noch jemand an, ausser einigen Literaten, die sich von seinem Stil und seiner Scheinkonsequenz bestechen lassen. Ein weit grösseres Gefolge, namentlich in Frankreich und Nord-Amerika, hat sich die klare und massvolle Art Proudhons zu wahren gewusst. Auch Bakunin hat heute noch seine Anhänger, besonders in Spanien: diese Lehre musste sich schon durch ihre enge Verwandtschaft mit dem modernen Sozialismus in gewissem Grade behaupten. Bei weitem die meisten Anarchisten sind gegenwärtig Anhänger Kropotkins, der Vorsprung der kühneren, weitergehenden Lehre gegenüber einer gemässigten, minder weitgehenden hat sich auch hier geltend gemacht: namentlich in den romanischen und slavischen Ländern spielt der kommunistische Anarchismus eine grosse Rolle, die sich anschaulich in der Menge der Zeitschriften und Zeitungen kundgibt, die seine Anschauungen vertreten. Nicht ganz ohne Jünger ist auch Tolstoj, besonders

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/197&oldid=- (Version vom 25.7.2021)