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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Michael Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876). In seinem unstäten Leben hat er auch einige anarchistische Schriften verfasst und sogar ein grosses Werk, Dien et l’Etat (1871), von dem allerdings nur Bruchstücke gedruckt sind. In diesen Schriften hat er dem Anarchismus eine neue Grundlage gegeben, auf jede ethische Begründung verzichtet und sich, freilich nur in sehr äusserlicher Weise, auf den materialistischen Boden des marxistischen Sozialismus gestellt.

Bakunin ist der Meinung, dass es keine andere Wissenschaft gibt als die Naturwissenschaft. Die wissenschaftliche Forschung kann uns nicht lehren, was sein soll, sondern nur, was gewesen ist, ist oder sein wird. Er stützt deshalb im Gegensatz zu den Früheren seinen Anarchismus nicht darauf, dass der Staat schlecht oder eine andere Gesellschaftsform besser sei, sondern er versucht den Beweis, dass die geschichtliche Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit den Staat beseitigen und an seine Stelle eine andere Gesellschaftsform setzen werde. Allerdings macht er sich diesen Beweis sehr leicht. Er begnügt sich mit der Behauptung, dass die menschliche Entwicklung sich mit Notwendigkeit aufwärts bewege, dass der Staat einer niedrigen Kulturstufe angehöre, unserer höheren Kulturstufe aber nur eine freie Gesellschaft entspreche, die infolgedessen mit unabwendbarer Notwendigkeit an die Stelle des Staates treten müsse. Die freie Gesellschaft denkt er sich im engsten Anschluss an Proudhon auf der Grundlage des Vertrages, und mit kühner Fantasie sieht er voraus, wie auf diese Weise nicht nur die Gemeinden sich zu Provinzen und diese zu Volksgemeinschaften vereinigen werden, sondern wie die Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa,“ ja zuletzt der Zusammenschluss aller Völker des Erdballs das Ganze krönen wird.

Nach Bakunin wird die Entwicklung mit dem Staate zwar nicht das Privateigentum als solches beseitigen, wohl aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das Privateigentum an Grund und Boden, den Arbeitswerkzeugen und allem andern, was zur Produktion erforderlich ist, gehört nach seiner Meinung derselben niedrigen Kulturstufe an wie der Staat. An seine Stelle wird die Entwicklung den Kollektivismus setzen, das heisst einen Zustand, bei welchem zwar die Gegenstände des Verbrauchs dem Eigentum des Einzelnen unterliegen, dagegen die Mittel der Gütererzeugung dem Eigentum der freien Gemeinschaften vorbehalten sind, die die Aufgaben des Staates übernehmen.

Die neue Gesellschaft wird nach Bakunin durch „die soziale Revolution“ herbeigeführt werden, einen gewaltsamen Umsturz, der den Staat und alle Staatseinrichtungen zerstören wird. Die soziale Revolution wird sich nicht auf ein einzelnes Volk beschränken, sondern alle Völker ergreifen. Sie wird nicht gegen Menschen, sondern gegen Einrichtungen wüten, wenn es auch kaum ohne Blutvergiessen abgehen wird. Sie wird von selbst durch die Macht der Verhältnisse herbeigeführt werden. Denen, die den Gang der Entwicklung voraussehen, liegt nur die Aufgabe ob, sie zu fördern und zu erleichtern und so bei der Geburt der neuen Gesellschaft Hebammendienste zu leisten.

Bakunin hat seine Gedanken mit einem recht hohlen Pathos vorgetragen. Trotzdem haben sie zahlreiche Anhänger und starken Einfluss auf die weitere Entwicklung erlangt, vielleicht nicht so sehr durch die Kraft seiner Persönlichkeit und durch die Unermüdlichkeit seines Wirkens wie durch die enge Verbindung, in die er den Anarchismus mit den mächtigen Zeitströmungen des Materialismus und des Sozialismus gebracht hat. Eng an Bakunin an schliesst sich namentlich die Lehre, die ein anderer Russe, Fürst Peter Alexejewitsch Kropotkin (geb. 1842), in einer grossen Anzahl von Schriften entwickelt hat, vor allem in den beiden Werken Paroles d’un révolté (1885) und La conquête du pain (1892). Kropotkin hat die Lehre Bakunins ganz ausserordentlich weiterentwickelt und vertieft. Nachdem er ein glänzendes äusseres Dasein seinen Ideen zum Opfer gebracht hatte, ist es das höchste Ziel seines Lebens gewesen, diese Ideen bis ins Kleinste auszubauen.

Auch für Kropotkin gibt es keine andere Wissenschaft als die Naturwissenschaft. Daher verzichtet auch er darauf, den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft als schlecht oder einen andern als besser hinzustellen, er unternimmt vielmehr den Nachweis, dass die Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit an die Stelle des gegenwärtigen Zustandes einen andern setzen werde. Überall erblickt er Anzeichen dafür, dass der Staat sich zersetzt, dass die Völker seinen ungeheuren Zwang nur noch als eine Last empfinden, die sie demnächst von sich werfen werden. Überall sieht er auch schon die Entwicklung der neuen, lediglich auf freien Zusammenschluss gegründeten Gesellschaft

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/194&oldid=- (Version vom 25.7.2021)