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das erste, das den schnippischen Kopfwurf nach links einleitet. Auch in der Wahrnehmung der rein schauspielerischen Interessen hat also hier der Genius instinktiv dem Gesetze der höchsten Schönheit gehorcht.

Aus der Fülle weiterer künstlerischer Forderungen, die den erhabenen Meister ganz ebenso zu der Wahl des „weder – weder“ nötigten, will ich nur noch eines hervorheben: nämlich, daß diese Form auch im Sinne einer packenden Symbolik des Ewigweiblichen die einzig entsprechende war. Wir haben Gretchen bekanntlich als ein Wesen aufzufassen, das a) von bezaubernder Jugendfrische, b) ausnehmend schön, c) kindlich fromm, aber d) auch sehr sinnlich veranlagt ist, das ferner e) sich erst sehr spröde verhält, endlich aber f) sich in ihrer selbstlosen Hingabe sogar verführen läßt – kurz, meine verehrten Damen und Herrn: wir sehen in Gretchen den idealen Inbegriff der deutschen Jungfrau, welcher seinerseits wieder der ideale Inbegriff des deutschen Weibes ist. Was aber lag nun näher, als diese bedeutsame Repräsentation der echtesten und schönsten Weiblichkeit durch Gretchen auch lautlich-symbolisch zum Ausdruck zu bringen? Auch dies wollte der Genius des unsterblichen Meisters nicht verabsäumen, auch dieser Forderung genügte er durch die nachdrückliche Wiederholung des wunderbarweich-wollüstig-weiblichen Konsonanten „W“ in jenem herrlichen „weder – weder“! Ich sage daher nicht zuviel, wenn ich zusammenfassend behaupte, daß die europäische Dichtkunst, ja wohl die gesamte menschliche Kultur nichts von gleicher Bedeutsamkeit diesem faustischen „weder – weder“ an die Seite zu stellen hat: weder bisher, weder in allen kommenden Aeonen!

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Hanns von Gumppenberg: Das teutsche Dichterroß. Callwey Verlag, München 1929, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gumppenberg_Dichterross_0152.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)