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Warum ließ Goethe an jener Stelle sein Gretchen „weder – weder“ sagen, und nicht „weder – noch“?

Die Antwort lautet erstens: weil Goethe ein Klassiker war und sich dementsprechend auch immer streng-klassisch ausdrücken mußte. Denn was allein läßt sich als strengklassische Ausdrucksweise bezeichnen? Offenbar nur jene Ausdrucksweise, welche der Antike am innigsten angenähert ist. Wie aber sagte der antike Kulturmensch für „weder – noch“? Er sagte als Römer „neque – neque“, und er sagte als Grieche „οὔτε[1]οὔτε[1]“, das heißt: er wiederholte dasselbe Wort! Es ergab sich daher für den Klassiker Goethe einfach die immanente Notwendigkeit, auch seinerseits das gleiche Wort zu wiederholen! Allerdings muß man dabei annehmen, daß er längere Zeit überlegte, ob er „noch – noch“ oder „weder – weder“ schreiben sollte: und jeder Feinfühlige wird noch heute die Qualen nachfühlen können, die seine Dichterseele bei diesem schwierigen Dilemma durchlitt. Zuletzt aber half wieder der kategorische Imperativ seines strengklassischen Formbewußtseins. Denn das Wort „noch“ war nur einsilbig, das Wort „weder“ aber zweisilbig, genau wie das Wort „neque“ oder „οὔτε[1]“, ferner kam für Goethe mehr das römische „neque“ in Betracht als das griechische „οὔτε“, weil er zwar in Rom war, aber nicht in Athen; und da zeigte sich ihm dann zu seiner frohen Überraschung, daß das Wort „weder“ zugleich in vokalischem Betracht völlig der klassisch-römischen Vorlage entsprach, indem wir in „weder“ ganz wie in „neque“ den zweifachen E-Laut beobachten. Somit ist sonnenklar nachgewiesen, daß schon der Drang des Goetheschen Genius, sich möglichst klassisch der Antike


  1. a b c Vorlage: οὄτε
Empfohlene Zitierweise:
Hanns von Gumppenberg: Das teutsche Dichterroß. Callwey Verlag, München 1929, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gumppenberg_Dichterross_0149.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)