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I.
Goethe-Gedächtnisrede,
gehalten am 22. März.


Hochgeehrte Versammlung!

Der Genius läßt sich nur dann wahrhaft nachgenießen, wenn wir mit Anspannung aller unserer geistigen Kräfte versuchen, seinen Spuren auch bis in die kleinsten Einzelheiten seines Wollens und Vollbringens ehrfürchtig zu folgen. Nachdem mir heute die Auszeichnung zuteil geworden ist, Ihnen, meine Damen und Herrn, den Vortrag zum Gedächtnis unseres großen Meisters halten zu dürfen, glaubte ich daher dieser hohen Aufgabe nicht besser gerecht werden zu können, als indem ich Sie in das Verständnis eines solchen Einzelphänomens Goethescher Dichtkunst einführe, dessen wahrer Wert und weittragende Bedeutung durch kurzsichtige Bedenken profan-grammatikalischer Art bis heute eine traurige Verschleierung, ja fast eine trübe Negation erfuhren. Ich meine jene Stelle in dem großen Lebenspoem des Meisters, wo Gretchen Faustens erster Annäherung entgegnet:

„Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn.“

Noch heute gibt es, Gott Apollo und den Musen sei es geklagt, allerlei schwächere Intellekte, die nicht begreifen können, welche tiefen inneren Notwendigkeiten den Meister hier zwangen, von der grammatikalisch üblichen Form „weder – noch“ in kühner Überzeugungssicherheit abzuweichen und dafür die ungewöhnliche, aber jedes wahrhaft unbefangene Empfinden schon an

Empfohlene Zitierweise:
Hanns von Gumppenberg: Das teutsche Dichterroß. Callwey Verlag, München 1929, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gumppenberg_Dichterross_0147.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)