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Ein Kapitel für sich bildete der üppig ins Kraut schießende Wohnungswucher, dem man sich auf keine Weise entziehen konnte, weil die größeren Zentren von Zuzüglern, insbesondere den Flüchtlingen aus den evakuierten Gouvernements überfüllt waren, während die Bautätigkeit im Laufe des Krieges vollständig zum Stillstand gelangt war, — man war also auf Gnade und Ungnade in die Hände der Hausbesitzer geliefert, die die Situation weidlich ausnutzten und die Mietpreise zu fabelhafter Höhe schraubten. Freilich suchten diese Harpyen ihr Tun durch die schweren Lasten, die sie angeblich zu tragen hatten, zu entschuldigen, aber sie vergaßen ganz, daß diese Lasten durch den enormen Wertzuwachs ihres Besitzes mehr als wett gemacht wurden.

Kurzum, man wurde von allen Seiten gezwickt und gezwackt, ohne daß man imstande gewesen wäre, sich gegen die von überall her andringenden Ansprüche zu wehren. Das Resultat war für den gebildeten Mittelstand, wie gesagt, ein überaus trauriges. Man aß schlecht, trank Wasser, schlechten und teueren Tee, greuliche Kaffeesurrogate, rauchte entsetzlichen Tabak, der mit Gold aufgewogen werden mußte, kleidete sich schäbig, und war trotz alledem nicht nur genötigt, seine Ersparnisse anzugreifen und sie restlos zu verbrauchen, sondern bald ging es auch an das Versilbern von Schmuck und anderen Wertgegenständen, und doch kamen viele um das Ende nicht herum, — sie verarmten in der hoffnungslosesten Weise, nachdem sie sich tapfer gegen die eindringende Not gewehrt hatten, so lange eben die Fonds ausgereicht hatten.

Der Einzelne durchlebte genau dasselbe, was dem Staate beschieden war: die vollständige Aufzehrung der angesammelten Vorräte und den wirtschaftlichen Zusammenbruch, oder doch die wirtschaftliche Schwächung auf Generationen hinaus. Man lebte von dem und mit dem, was man in besseren Zeiten angeschafft hatte; wenn man damit zu Ende war, dann begann das Darben und das Sichbehelfen.

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/59&oldid=- (Version vom 1.8.2018)