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werden; eines Tags aber sieht Talia eine spinnende Alte vorübergehen, und beim Ergreifen des Rockens stößt sie sich eine Agen unter den Fingernagel und sinkt tot zu Boden. Der König läßt sie unter einen Thronhimmel auf einen Sessel niedersetzen und dann das Schloß verschließen. Eines Tags geschah nun, daß einem König auf der Jagd sein Falke von der Hand entflog und sich in ein Fenster jenes Schlosses setzte; weil der Vogel nicht zurückzulocken war, drang er in das Schloß und fand endlich die schöne Schlafende, trug sie aufs Lager und genoß, während sie fortschlief, ihre Liebe. Nach neun Monaten, immer noch schlafend, gebar sie Zwillinge, einen Knaben und ein Mädchen; da erschienen zwei Feen und legten ihr die Kinder an die Brust. Als die Kinder nun einmal die Mutterbrust nicht finden konnten, faßten sie die Finger und sogen, bis sie jene Flachsagen herauszogen, worauf Talia aus ihrem Schlafe erwachte. Der König aber erinnerte sich wieder des Waldes und Schlosses, fand Talia und die Kinder, welche Sole und Luna hießen, und versprach sie abzuholen. Seine Gemahlin aber kam hinter das Geheimnis und wollte die Kinder (wie bei Perrault) schlachten und kochen lassen, was hintertrieben wurde.

Dazu stimmt eine Episode des im 14. Jahrhundert verfaßten altfranzösischen Prosaromans Perceforest (1528 2, 105. 3, 131. 158. Spiller S. 20). Zur Feier der Geburt der Königstochter Zellandine werden drei Göttinnen geladen; Lucina verleiht ihr Gesundheit, Themis, erzürnt über das auf ihrem Platze fehlende Messer, bestimmt, sie solle sich beim ersten Leinenfaden, den sie aus dem Spinnrocken ziehe, eine Agen (areste) in den Finger stoßen und solange schlafen, bis diese herausgezogen werde; Venus aber verheißt diese Heilung zu bewirken. Als die Weissagung sich an der herangeblühten Jungfrau erfüllt, dringt ihr Liebhaber Troylus auf dem Rücken eines Vogels in die verschlossene Burg, findet die schlafende Geliebte, wohnt ihr bei und entfliegt, nachdem er mit ihr den Ring getauscht, auf dieselbe Weise. Der Knabe, den sie nach neun Monaten gebiert, ergreift sogleich ihren kleinen Finger und saugt daran, bis er die Flachsfaser entfernt und die Mutter erwacht. Als der König dann ein Turnier ausschreibt, erscheint Troylus, besiegt alle andern Ritter, gibt sich der schönen Zellandine zu erkennen und entflieht mit ihr.

In einem nahe verwandten, doch unvollständig überlieferten katalanischen Gedichte des 14. Jahrh. von Frayre de joy und

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_436.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)