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Löwin aber leckte es mit ihrer Zunge.[1] ‘Hat ein reißend Tier Mitleiden, so kann ich noch vielweniger grausam sein’, dachte der Diener, ließ das Kind der Löwin und brachte der Alten eine Hundszunge mit. Bald darauf kehrte der Fürst aus dem Krieg heim, und wie er die Schönheit seiner Gemahlin sah, mußte er sie für unschuldig halten und konnte ihr keine Strafe antun. – Das folgende Jahr war sie abermals guter Hoffnung, und weil gerade der Fürst wiederum abreisen mußte, trug sich alles wie das erste Mal zu, das geborene Kind kam wieder zur Löwin und wurde von ihr erzogen. Die alte Fürstin klagte sie noch viel heftiger an, aber der Fürst wurde nochmals von ihrer Unschuld überwunden, obgleich sie keine Silbe zu ihrer Verantwortung vorbringen durfte. Wie aber beim dritten Mal alle die vorigen Umstände wiederholt eintraten, glaubte der Fürst, daß ihn Gottes Zorn treffen werde, wofern er länger mit einer Gemahlin lebe, die ihm keine menschliche Erben, sondern Tiere zur Welt bringe, befahl also bei seiner Heimkunft, sie durch Feuer vom Leben zum Tod zu bringen. Nun war gerade der Tag der Hinrichtung der letzte von den sieben Jahren, und wie sie den letzten Stich tat, dachte sie seufzend: ‘Du lieber Gott, soll denn endlich die schwere Zeit um sein!’ In demselben Augenblick waren ihre sieben Brüder erlöst und aus Raben wieder Menschen geworden, schwangen sich alsbald auf sieben gesattelte Pferde und sprengten durch den Wald. Mitten drin sehen sie bei einer Löwin drei Knäblein mit einem Goldkreuze auf der Stirn: ‘Das sind unserer lieben Schwester Kinder!’, nehmen sie zu sich aufs Pferd. Als sie aus dem Wald reiten, sehen sie von weitem eine Menge Volks stehen und den Scheiterhaufen brennen, winken mit ihren Tüchern und reiten Galopp: ‘Liebste Schwester, wie geht’s dir? Da sind auch deine drei Kinder wieder!’ Sie ward losgebunden, und da ihr die Sprache wieder erlaubt war, so dankte sie Gott mit lauter Stimme. An ihrer Stelle aber wurde die böse Alte zu Asche verbrannt.

In dieser Fassung werden also die Brüder nicht durch die böse Stiefmutter verwandelt, sondern wie in nr. 25 durch einen unbedachten Wunsch des Vaters; ihre Erlösung aber, die dort die Schwester durch mühevolle Erkundigung und Erklimmen des Glasberges erreicht, bewirkt sie hier durch eine freiwillig unter den größten Gefahren und Seelenqualen bewahrte Stummheit; gerade wie in unsrer nr. 9, 49 und in einigen zu nr. 25 angeführten Fassungen. – In der Braunschweiger Sammlung ‘Feenmärchen’ 1801 S. 349–379 ‘Von sieben Schwänen’. Die Verwandlung in Schwäne kommt auch in dem ostpreußischen Märchen bei Lemke 2, 171 und


  1. Auch im Roman von Herpin (Simrock, Volksbücher 11, 225) säugt eine Löwin das von Räubern ausgesetzte Kind des Helden.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_430.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)