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Kannibalismus (Macculloch p. 295) steigert.[1] – Die List, jemanden etwas in einer tiefen Kiste suchen zu lassen und den Deckel plötzlich zuzuschlagen, erscheint schon bei Gregor von Tours, Historia Franconum 9, c. 34 (MG. Scr. rer. Meroving. 1, 389: Rigundis) und in der Völundarkviþa 23 (Gering, Edda S. 145), wo der Schmied die beiden Königssöhne in seine Geschmeidetruhe blicken läßt; vgl. Rittershaus S. 35. 129. Abzuweisen ist aber die von Wackernagel, Kl. Schriften 3, 240 herangezogene Legende von dem wiederbelebten Kinde in der Äpfeltruhe (Abraham a S. Clara, Bescheidessen S. 513).

Bei der Wiederbelebung des getöteten Knaben sind zwei Stufen zu unterscheiden, die sonst einzeln vorkommen: die gesammelten Gebeine werden in einen Vogel, und der Vogel in das Kind verwandelt. Die Umgestaltung des von der Mutter geschlachteten und gekochten Kindes in einen Vogel kennt schon die griechische Sage von Itys und Prokne (Preller, Griech. Mythologie ³ 2, 143. Roscher, Mythol. Lexikon 2, 1, 69), wie ja die Erscheinung der Seele in Vogelgestalt eine weit verbreitete Vorstellung ist (J. Grimm, Myth. ³ S. 788. 3, 246. Liebrecht, Gervasius von Tilbury S. 115. Germania 1, 421. Weicker, Der Seelenvogel 1902. De drei Vügelkens, unten nr. 96).

Das Sammeln der Knochen kommt in den Mythen von Osiris und Orpheus (Preller ³ 2, 487. Gruppe, Griech. Mythologie 1, 297. 2, 1421. Roscher 3, 1, 1165) vor; und vielfach folgt darauf eine wunderbare Wiederbelebung, so in der Sage von dem geschlachteten und verzehrten Knaben Pelops, den Zeus belebt, indem er zugleich das von Demeter verzehrte Schulterblatt durch Elfenbein ersetzt (Preller ³ 2, 384. Roscher 3, 2, 1870), ferner im Märchen vom Bruder Lustig (nr. 81) und vom Fitchersvogel (nr. 46), in der Sage von dem ertrunkenen Kinde, dessen Gebeine die Mutter bis auf ein Fingerknöchelchen in die Kirche trägt (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre B. 8, Kap. 9 = Grimm DS. nr. 62), in der altdänischen Ballade von Mariboes Quelle (W. Grimm, Altdän. Heldenlieder 1811 S. 84), in der die Königin den zerstückten Grafen belebt, in der finnischen Kalevala, wo Lemminkäinens Mutter die Reste ihres


  1. Auf entfernte Parallelen wie Hofberg p. 91 ‘Mylingen’, Talvj, Volkslieder der Serben 1853 2, 184 ‘Die Hexen’ oder das von Macculloch angeführte madagassische Märchen (Folk-lore Journal 1, 273) können wir hier verzichten.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_422.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)