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dem Märchen gab, von den Brüdern Grimm übernommen worden[1]. – Der Eingang von den Blutstropfen im Schnee erinnert an Sneewittchen (nr. 53). Marleenken ist zusammengezogen aus Maria Magdalena.

Nach einer Erzählung aus der Pfalz, die Mone vor 1822 den Brüdern Grimm mitteilte, wird das Schwesterchen von der Mutter neben den Topf gestellt, worin das gemordete Brüderchen kochen soll. Es ist ihm streng verboten hineinzusehen; doch wie es so arg in dem Topf kocht, deckt es einmal auf, und da streckt ihm das Brüderchen das Händchen heraus. Darüber kriegt es Angst und macht gleich wieder zu, weint aber dabei. Wie es gar gekocht ist, muß es dem Vater das Essen in den Weingarten hinaustragen; es sammelt die Knochen und begräbt sie unter einen wilden Mandelbaum [!]. Andere erzählen, es hätte sie eingefädelt und zum Speicher hinausgehängt. Da ist das Brüderchen in ein Vögelchen verwandelt worden und hat gepfiffen:

‘Mei Moddr hot mi toudt g’schlagn,
Mei Schwestr hot mi hinausgetragn,
Mei Vaddr hot mi gesse;
I bin doch noh do,
Kiwitt, Kiwitt!’


  1. Vgl. die sorgfältige Untersuchung von R. Steig, Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm (Archiv f. neuere Sprachen 107, 279). Im Archiv 110, 9 weist Steig darauf hin, daß J. Grimm 1813 in den Altdeutschen Wäldern 1, 11 (Kommentar zu einer Stelle in Eschenbachs Parcifal) das Märchen vom Wacholderbaum in Arnims Fassung zitiert, nicht in der der Kinder- und Hausmärchen. 1811 heißt es in Eichendorffs Roman ‘Ahnung und Gegenwart’ (Sämtliche Werke 1864 2, 50. Ibing, Das Verhältnis Eichendorffs zu Volksbrauch, Diss. Bonn 1912 S. 103): ‘Unsere Wärterin erzählte uns dann gewöhnlich das Märchen von dem Kinde, dem die Mutter den Kopf abschlug und das darauf als ein schöner Vogel draußen auf den Bäumen sang’. – Die hochdeutschen Verse des Vogels hat Fabricius (Kbl. f. nd. Sprachforschung 32, 42) in Stralsund niederdeutsch gehört:

    Mīn Moder, de mi slacht,
    Mīn Vader, de mi āt,
    Mīn Suster, de Marleneken,
    Sammelt mine Beneken,
    Bindt se in’n siden Dōk,
    Legt se unner den Machandelbōm –
    Kiewit, Klewit,
    Wat vör ’n schön’ Vagel bün ick!

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_413.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)