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und das erste war, daß er die Schlüssel von ihr forderte. Ihr Herz schlug, sie brachte die andern und hoffte, er werde es nicht bemerken, daß der goldene fehlte. Er aber zählte sie alle, und wie er fertig war, sagte er: ‘Wo ist der zu der heimlichen Kammer?’ Dabei sah er ihr in das Gesicht. Sie ward blutrot und antwortete: ‘Er liegt oben, ich habe ihn verlegt, morgen will ich ihn suchen.’ – ‘Geh lieber gleich, liebe Frau! Ich werde ihn noch heute brauchen.’ – ‘Ach, ich will dirs nur sagen, ich habe ihn im Heu verloren, da muß ich erst suchen.‘ – ‘Du hast ihn nicht verloren’, sagte der Blaubart zornig, ‘du hast ihn dahin gesteckt, damit die Blutflecken herausziehen sollen; denn du hast mein Gebot übertreten und bist in der Kammer gewesen. Aber jetzt sollst du hinein, wenn du auch nicht willst.’ Da mußte sie den Schlüssel holen, der war noch voller Blutflecken. ‘Nun bereite dich zum Tode! Du sollst noch heute sterben,’ sagte der Blaubart, holte sein großes Messer und führte sie auf den Hausehrn. ‘Laß mich nur noch vor meinem Tod mein Gebet tun,’ sagte sie. ‘So geh, aber eil dich! Denn ich habe keine Zeit lang zu warten.’ Da lief sie die Treppe hinauf und rief, so laut sie konnte, zum Fenster hinaus: ‘Brüder, meine lieben Brüder, kommt, helft mir!’ Die Brüder saßen im Wald beim kühlen Wein[1], da sprach der jüngste: ‘Mir ist, als hätt ich unserer Schwester Stimme gehört. Auf, wir müssen ihr zu Hilfe eilen.’ Da sprangen sie auf ihre Pferde und ritten, als wären sie der Sturmwind. Ihre Schwester aber lag in Angst auf den Knien; da rief der Blaubart unten: ‘Nun, bist du bald fertig?’ Dabei hörte sie, wie er auf der untersten Stufe sein Messer wetzte; sie sah hinaus, aber sie sah nichts als von ferne einen Staub, als käm eine Herde gezogen. Da schrie sie noch einmal: ‘Brüder, meine lieben Brüder, kommt, helft mir!’ Und ihre Angst ward immer größer. Der Blaubart aber rief: ‘Wenn du nicht bald kommst, so hol ich dich; mein Messer ist gewetzt.’ Da sah sie wieder hinaus und sah ihre drei Brüder durch das Feld reiten, als flögen sie wie Vögel in der Luft; da schrie sie zum drittenmal in der höchsten Not und aus allen Kräften: ‘Brüder, meine lieben Brüder, kommt, helft mir!’ Und der jüngste war schon so nah, daß sie seine Stimme hörte: ‘Tröste dich, liebe Schwester! Noch einen Augenblick, so sind wir bei dir.’ Der Blaubart aber rief: ‘Nun ists genug gebetet; ich will nicht länger warten. Kommst du nicht, so hol ich dich.’ – ‘Ach, nur noch für meine drei lieben Brüder laß mich beten!’ Er hörte aber nicht, kam die Treppe heraufgegangen und zog sie hinunter, und eben hatte er sie an den Haaren gefaßt und wollte ihr das Messer in das Herz stoßen, da


  1. Vgl. Erk-Böhme, Liederhort nr. 42d, 19 (Schön Ulrich und Rautendelein): ‘Der Bruder saß beim kühlen Wein, der Schall der kam zum Fenster rein’.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_406.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)