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In den englischen und schottischen Versionen[1] wird die Königstochter durchweg nicht im Meer, sondern in einem Flusse ertränkt, und ein Müller zieht die Leiche heraus. Auch in der deutschen Sprachinsel Gottschee hat Hauffen (Gottschee 1895 s. 263 nr. 53) die Ballade von den zwei Königstöchtern aufgefunden. Sie gehen waschen zum breiten Meer, zum tiefen See; die ältere fordert die Schwester, die sie um ihren vornehmen Freier beneidet, auf:

‘Tritt her, tritt her auf den grauen Stein!
Ich will dir waschen die Füßlein weiß’

und stößt sie hinein. Als Spielleute vorüberziehen, hören sie den Ruf:

‘Ihr Geigerlein, Geigerlein, ihr Lieben mein,
Nehmt hin, nehmt hin mein Seidenhaar
Zu euren Saiten, daß sie spielen fein!
Nehmt hin, nehmt hin meine Fingerlein,
Gebrauchet sie als Wirbelein !
Geht geigen vor des Königs Tür:
Der König hatte zwei Töchterlein,
Die ältre stieß die jüngre ins Meer hinein.’

Eine solche Weisung der toten Jungfrau an die Spielleute kehrt wieder in der mährisch-schlesischen Ballade von der Erle,[2]


  1. Child, English and scottish popular ballads 1, 118 nr. 10 ‘The two sisters’; vgl. 2, 493. 4, 498. 6, 499. 8, 447. Deutsch von Henriette Schubert (Arnims Trösteinsamkeit 1808 S. 146. W. Grimm, Kl. Schr. 2, 209), Talvj (Charakteristik 1840 S. 532), Dönniges (1852 S. 81), Gerhard (Minstrelklänge 1853 S. 143), E. M. Arndt (Blütenlese 1857 S. 238), Warrens (Schott. Volkslieder 1861 nr. 15), Knortz (Lieder Alt-Englands 1872 S. 180). – Nacherzählt bei Jacobs, English fairy tales 1890 p. 44 nr. 9 ‘Binnorie’.
  2. Erk-Böhme, Liederhort 1, 26 nr. 8 (nach Meinert S. 122 und Peter 1, 209). – Čechisch bei Erben 1864 S. 466 = 1886 S. 522. Sušil S. 143 nr. 146. Bartoš, Nár. písně morav. Akad. S. 754 nr. 1427. Kollár, Zpiewanky 2, 4. Wenzig, Slawische Volkslieder 1830 S. 110 = Westslaw. Märchenschatz S. 273 = Bibliothek slawischer Poesien 1875 S. 134. Talvj, Handbuch der slaw. Sprachen 1852 S. 329. Waldau, Böhmische Granaten 2, 97. Léger, Chants des Slaves 1866 p. 264. – Polnisch bei Woycicki-Lewestam S. 151. Böckel, Mitt. der schles. Ges. f. Volkskunde 11, 42. Roger S. 70. – Als Sage von einem Ahornbaum am Millstädter See in Oberkärnten bei Vernaleken, Alpensagen 1858 S. 289 nr. 207. Ganz verschieden schildert ein Zigeunermärchen (Wlislocki 1886 S. 5 = Groome p. 131 nr. 37. Gypsy-lore Journal 2, 65) die Erschaffung der Geige aus Menschenleichen, die ein Mädchen dem Teufel übergibt, um dadurch den geliebten Jüngling zu gewinnen.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_272.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)