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Ostgalizien bei Rozdolśkyj nr. 31 (Etnograf. Zbirnyk 7, 25): der sündige Vater schneidet seiner Tochter den mit ihr erzeugten Sohn aus dem Leibe und begräbt sie neben seiner Frau; das Rätsel lautet: ‘Der nicht Geborene ist angekommen auf dem nicht Geborenen, und seine Mutter hat er auf den Händen gebracht.’ Der Jüngling löst mit Hilfe dankbarer Tiere die Aufgaben der Königstochter. Bei Kolberg, Pokucie 4, 220 nr. 49 schneidet der aus dem Incest von Vater und Tochter hervorgegangene Bursch seiner Mutter auf deren Geheiß die Haut der Brust ab, um sich Handschuhe daraus machen zu lassen, und nimmt das Fohlen aus dem Leibe der Stute, damit er alles wisse, was in der Welt vorgeht. Sein erstes Rätsel lautet: ‘Es reitet der nicht Lebende auf dem nicht Lebenden und trägt seine Mutter auf den Händen’; sein zweites spielt auf die den Mägden und der Prinzessin weggenommenen Kleider an: ‘Ich war gestern auf der Jagd, erschlug drei Rehe, zog ihnen die Haut ab, da entliefen sie mir; dem vierten hab ich den Schweif abgezogen.’ – In dem griechischen Märchen Νεοελληνικὰ Ἀνάλεκτα 1, 42 = Legrand p. 50 ‘La fille qui allaite son père’ (vgl. R. Köhler 1, 373) dagegen und in einem spanischen Rätsel bei Demófilo p. 386 nr. 24 (Vengo á caballo en lo que nunca ha nacido, y traigo las piernas encima de su madre) und Revista de folklore chileno 2, 365 handelt es sich nur um ein ausgeschnittenes Pferd und das Fell der Mutterstute.

Nur der Schluß des Märchens, wo der Held der Prinzessin oder ihren Dienerinnen, die nachts sein Geheimnis stehlen wollen, ihr Hemd wegnimmt, um es am andern Tage öffentlich zu zeigen, erscheint bei den Albanesen (Dozon p. 159 nr. 20 ‘Le joueur de violon’) und Russen (Dietrich S. 158 nr. 12 ‘Der Schuster und sein Diener Prituitschkin’. Vogl 1841 S. 75 ‘Der Schuster Gorja und sein Diener Briditschkin’).

In einer Erzählung türkischer Zigeuner (Paspati 1870 p. 595 nr. 1 = Groome p. 9 nr. 3 ‘The riddle’) erhält ein Verschwender, der seine Eltern verkauft hat,[1] vom Könige einen Uriasbrief, den er aber am Brunnen liest; er gibt darauf der Prinzessin das Rätsel auf; ‘Meine Mutter trag ich, meinen Vater ritt ich, aus meinem Tode trank ich Wasser.’ Das stimmt zu dem arabischen Volksrätsel in


  1. Bei Ilg, Maltesische Märchen 2, 99 nr. 136 äfft ein Schlaukopf, der die Bildnisse seiner Eltern verkauft hat, den Beichtiger mit dem Bekenntnis, er habe seine Eltern einem Bauern verkauft.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_197.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)