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(oder sie von seinem Blute trinken läßt). Sie aber verliebt sich in einen Krüppel und stößt ihren Mann in einen Brunnen. Den Buhlen im Korbe auf dem Kopfe tragend und für ihn bettelnd, wird sie vom Könige als ein Muster ehelicher Treue bewundert, und als ihr glücklich geretteter Gatte eintrifft, verklagt sie diesen als den Verstümmler ihres Buhlen; da fordert er das einst geschenkte Leben zurück, und sie stirbt auf der Stelle (oder wird verstoßen). Eine jüngere, gleichfalls in Indien entsprungene Erzählung,[1] die im 14. bis 15. Jahrhundert nach Deutschland gedrungen und dort zu dem Gedichte ‘von der toten Frau’[2] verarbeitet ist, läßt die Frau nicht auf einer Reise, sondern daheim sterben; ihr Mann trägt die Leiche fort, und ein Gott, dessen Namen nach dem Religionsbekenntnis des Erzählers wechselt, (Siva, Messias, Buddha, Allah) oder ein[WS 1] Engel erweckt sie. In einer weiteren mohammedanischen Umgestaltung[3] tritt der Prophet Aïssa (Jesus) zweimal auf, als Erwecker der Frau und als Befreier des zum Tode verurteilten Mannes.

Aus dieser arabischen Legende, die auch das Gelübde der Ehegatten enthält, daß nach dem Tode des einen der andre das Grab bewachen soll, scheint das europäische Märchen, das sich in der italienischen und deutschen Überlieferung am besten erhalten hat, hervorgegangen zu sein. Hier wird indes die tote Frau nicht durch einen Gott oder Propheten ins Leben zurückgerufen, sondern


  1. North Indian Notes and Queries 5, 85 nr. 201 (1895). Wahb ibn-Munabbih, ein arabischer Jude des 7.–8. Jahrh., in dem im 16. Jahrh. geschriebenen Tazyîn (Zs. f. Volkskunde 13, 16). Aus Annam bei Landes, Contes nr. 83 ‘La femme métamorphosée en moustique’ (Gelübde, daß der überlebende Gatte bei der Leiche bleiben soll). Aus Java bei Seidel, Asiatische Volksliteratur S. 283.
  2. Keller, Erzählungen aus altdeutschen Hss. 1855 S. 372; vgl. Zs. f. Volksk. 13, 18. 149. Als die Frau wieder erwacht, ist der Mann, der dem Engel zwanzig Jahre seines Lebens abgetreten hat, plötzlich 60 Jahre alt statt 40, wodurch ihr Widerwille gegen ihn teilweise erklärt wird.
  3. The Orientalist 1, 64 (Ceylon 1884. Aus dem Arabischen). Ahmed el Qalyubi, ein Araber des 17. Jahrh. (Revue des trad. pop. 15, 31). Rivière, Contes pop. de la Kabylie S. 119 ‘Jesus Christ et la femme infidèle’. ‘Histoire d’Adileh’ in Gauttiers Mille et une nuits 7, 285 (1823. Chauvin 8, 119). ‘Gulhendam’ in den Vierzig Vezieren, übersetzt von Pétis de la Croix 1707 (bearbeitet von Wieland, Hann und Gulpenheh und von M. G. Lewis. R. Köhler 3, 95), von Behrnauer 1851 S. 80 und Gibb 1886 S. 82.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: odere in
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_130.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)