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rauschen.’ – ‘Was hilft das,’ antwortete das Schwesterchen, ‘warum willst du trinken, da wir doch Hungers sterben wollen?’ – Brüderchen aber schwieg still und stieg heraus, und weil es das Schwesterchen immer fest mit der Hand hielt, mußte es mit heraussteigen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe, und wie sie die zwei Kinder hatte fortgehen sehen, war sie ihnen nachgegangen und hatte ein klares Brünnlein in der Nähe des Baums aus dem Felsen springen lassen, das sollte durch sein Rauschen die Kinder herbeilocken und zum Trinken reizen; wer aber davon trank, der ward in ein Rehkälbchen verwandelt.[1] Brüderchen kam bald mit dem Schwesterchen zu dem Brünnlein, und als er es so glitzerig über die Steine springen sah, ward seine Lust immer größer, und er wollte davon trinken. Aber dem Schwesterchen war angst; es meinte, das Brünnlein spräche im Rauschen[2] und sagte: ‘Wer mich trinkt, wird zum Rehkälbchen; wer mich trinkt, wird zum Rehkälbchen’. Da bat es das Brüderchen, nicht von dem Wasser zu trinken. ‘Ich höre nichts’, sagte das Brüderchen, ‘als wie das Wasser so lieblich rauscht. Laß mich nur gehen!’ Damit legte es sich nieder, beugte sich herab und trank, und wie der erste Tropfen auf seine Lippen gekommen war, da lag ein Rehkälbchen an dem Brünnlein.

Das Schwesterchen weinte und weinte, die Hexe aber war böse, daß sie es nicht auch zum Trinken hatte verführen können. Nachdem es drei Tage geweint, stand es auf und sammelte die Binsen in dem Wald und flocht ein weiches Seil daraus. Dann band es das Rehkälbchen daran und führte es mit sich. Es suchte ihm auch eine Höhle, trug Moos und Laub hinein und machte ihm ein weiches Lager; am Morgen ging es mit ihm hinaus, wo zartes Gras war, und sammelte das allerschönste, das fraß es ihm aus der Hand, und das Rehkälbchen war dann vergnügt und spielte auf den Hügeln. Abends aber, wenn Schwesterchen müde war, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, und so schlief es ein. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, das wäre ein herrliches Leben gewesen.

So lebten sie lange Jahre in dem Wald. Auf eine Zeit jagte der König und verirrte sich darin. Da fand er das Mädchen mit dem Tierlein in dem Wald und war erstaunt über seine Schönheit. Er hob es zu sich auf sein Pferd und nahm es mit, und das Rehkälbchen lief an dem Seile nebenher. An dem königlichen Hof ward ihm alle Ehre angetan, schöne


  1. Hsl. abgeändert: es war aber von ihr so verwünscht worden, daß wer davon trank, in ein Rehkälbchen verwandelt ward.
  2. So wird Psyche bei Apuleius (Metam. 6, 14) von Quellen gewarnt: ‘Iamque et ipsae semet muniebant vocales aquae; nam et Discede et Quid facis? vide et Quid agis? cave et Fuge et Peribis subinde clamant’. Ein redender See bei B. Schmidt, Griechische Märchen 1877 S. 119.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_080.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)