Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 018.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Im sicilianischen Märchen vom Patenkind des h. Franz von Paula (Gonzenbach nr. 20 = Crane p. 83 f.) fehlt ein Verbot, und die Leiden des Mädchens sind eine läuternde Prüfung, die durch die Frage eingeleitet werden, ob es besser sei, in der Jugend zu leiden oder im Alter. Im türkischen Märchen vom Kummervogel (Kúnos S. 181) verlangt die Sultanstochter zu wissen, was Kummer sei, und wird von einem Vogel, der sich nachher in einen Sklaven verwandelt, in derselben Weise gepeinigt.

Ein zweites sicilianisches Märchen ‘Das Kind der Mutter Gottes’ (Gonzenbach nr. 25) zeigt Vermischung mit einer andern Erzählung: die Jungfrau flieht vor einem verbrecherischen Vater oder Lehrer, der ihr, auch nachdem sie Gemahlin eines Königs geworden, nachstellt und sie des Kindermordes verdächtigt.[1] Hier greift die Mutter Gottes rettend ein und überliefert den Übeltäter dem Feuertode; anderwärts aber wird der Frau das Leugnen, etwas von jenem Verbrechen zu wissen, als Verdienst angerechnet, so daß ihr Verfolger von ihr abläßt; vgl. Pitrè 3, 15 nr. 114 ‘Lu tradimentu’ (Priester). Grisanti 2, 216 ‘La trovatella’. Finamore 1, 58 nr. 13 ‘La bbella Marije’ (Priester). Busk p. 208 ‘The pilgrims’ = Crane p. 364 (Heldin vom Priester und vom Vizekönig verleumdet). Nerucci nr. 51 ‘Caterina’ (Lehrer). Bernoni nr. 15 ‘Sipro, Candia e Morea’ (Leonora belauscht die Zauberkünste der Lehrerin). Visentini nr. 14 ‘La maestra scellerata’ (Elisa). – Slowakisch bei J. Hanush, Zs. f. d. Mythol. 4, 224–228 = Nĕmcová, Slov. poh. 1, 93 nr. 8: ‘Der Werwolf’ tötet im Walde acht seiner Töchter, die jüngste entrinnt. – Mingrelisch im Sbornik mater. Kavkaz. 18, 3, 33 f.: Ein böser Mann verstößt seine unschuldige Frau und schleicht sich, als sie in einem reichen Hause Unterkunft als Kinderwärterin gefunden hat, nachts in ihr Zimmer und ermordet das Kind in der Wiege. Als Mörderin zum Galgen verurteilt, betet sie unterwegs in einer Kirche. Wie sie das Schaffot betritt, erscheint die Jungfrau Maria mit dem Jesuskinde, erweckt das tote Kind und fragt es nach seinem Mörder; das Kind zeigt auf den unter der Menge befindlichen Mann der Wärterin. – Armenisch


  1. Vgl. dazu das Mädchen ohne Hände (nr. 31). – So legt in der Crescentia-legende ein verschmähter Liebhaber der schlafenden Heldin das blutige Messer, mit dem er das Kind getötet, zur Seite (Mussafia, Sb. der Wiener Akad. 41, 589. 1865); vgl. Straparola 1, nr. 4, Sarnelli p. 26 und 152 ‘La pietà remmorata’, Pitrè 2, 142 nr. 73.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_018.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)