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für Schritt gefolgt, um meines Bruders Tod, wie das meine Pflicht war, an ihm zu rächen. Nur sein Name, nicht aber sein Angesicht war bis zu dieser Stunde mir bekannt. Heut bei der Waffenschau erkannte ich ihn an seinen prahlenden Worten. Indem ich ihn tötete, that ich nur meine Pflicht!“ –

„Kannst du Zeugen dafür bringen,“ fragte der Richter, „daß du wirklich Gretters Bruder bist, und somit deine That auf dem Recht der Blutrache beruht?“ –

„Nein, das kann ich nicht!“ sagte Drommund.

„Nun, so trifft nach dieses Landes Gesetz und Brauch dich die Strafe des Kerkers. Dort mußt du so lange sitzen, bis jemand kommt, der mit Geld dich löst.“

Nach diesem Spruch führte man Thorstein Drommund gefesselt ab, und warf ihn in der Stadt Konstantinopel in ein Gefängnis.

Der Kerker lag unter der Erde, war modericht, feucht und düster, hatte aber Luftlöcher, die zu einer belebten Straße hinaufführten.

Als die schwere Thüre des Kerkers hinter ihm ins Schloß gefallen war, sah sich Thorstein forschend in dem freudlosen Raume um. Bei dem Zwielicht bemerkte er in einer Ecke die Umrisse einer zusammengekauerten, menschlichen Gestalt. Er trat auf dieselbe zu, blickte in ein gramdurchfurchtes Männerangesicht, und fragte: „Freund! Wie gefällt dir das Leben hier?“ –

„Es ist eine Qual hier zu liegen!“ erwiderte eine matte Stimme. „Schon lange bewohnte ich diesen öden Raum. Denn niemand hilft mir hinaus. Ich habe keine Verwandte, die mit Geld mich lösen könnten!“ –

„So lange wir noch leben, laß uns hoffen!“ sagte Thorstein. „Sei heiter! – Wir wollen mit irgend etwas uns die Stunden kürzen!“ –

„Ich weiß nicht mehr, was Freuden sind,“ sagte heiser der Gefangene.

„So wollen wir wenigstens den Versuch machen, fröhlich zu sein,“ ermunterte ihn Thorstein.

Und nun fing er an zu singen ein Lied von den Bergen seiner nordischen Heimat, von jenen frischen, freien, stolzen Bergen, über welche in den langen, süßen Sommernächten die Sonne ihren Strahlenmantel legt. Und er sang es mit einer Stimme so schmelzend schön, daß die Vöglein, um zu lauschen, stille saßen auf ihrem Ast, die Fischlein innehielten

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Emil Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/283&oldid=- (Version vom 1.8.2018)