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Wohl zehn Jahre war er nicht hier gewesen. Seit er seinen Bruder Atle an Thorbjoern gerächt, und, von seiner Mutter Asdis mit einem Lobspruch dafür gesegnet, in die weite Welt gezogen war, hatte er diese Dächer, auf denen die Stiefmütterchen und die Anemonen ihm so anheimelnd entgegen blühten, nicht wieder gesehen. Da unten verkehrten die Leute so fleißig, so friedlich, und er war so friedlos, so zwecklos in dieser Welt! –

Ob sie noch lebten die beiden einzigen Menschen, welche von dem alten Stamm hier noch hausten? –

Er legte dem Pferde die Schenkel an, und trabte rasch hinab.

Vor dem Hofe angelangt, sprang er aus dem Sattel, und trat in die Hausthüre.

„Mein Sohn! – Mein geliebtes Kind!“ – so schloß ihn Asdis zärtlich in die Arme.

Sie war alt geworden, diese vielgeprüfte Asdis! –

Das schneeweiße Haar, noch voll unter der dunklen Haube hervorquellend, umrahmte ein von Sorgen tief durchfurchtes Angesicht.

Gretter strich mit seiner breiten Hand liebkosend über ihren Scheitel, ihr zärtlich in die Augen blickend.

„Meine Mutter!“ – Welche eine Welt von Gefühlen enthielt nicht dieses eine Wort! – „Meine Mutter!“ –

„Und Illuge, wie groß bist du geworden, und wie breitschultrig! Kein Knabe mehr, in Wahrheit ein Mann!“ sagte er zu dem Bruder, der neben die Mutter hintrat.

„Er ist schon fünfzehn Jahre alt, mein Spätgeborener! Nun meine einzige Stütze und mein Trost!“ –

Beide nahmen Gretter in ihre Mitte, und führten ihn so in die große Halle ein, in welcher vor Zeiten 200 Gäste an vier Reihen von Tischen bewirtet wurden.

Die Gluppen im Dach waren geöffnet, Holzrahmen mit einer dünnen Haut überzogen. Das volle Sonnenlicht strömte durch dieselben ein, und glitt an dem Schnitzwerk der Vertäfelung herunter. Wie oft hatten ihn diese braunen Bilder angeblickt, und als Kind erfreut. Hier Odin mit seinen Wölfen zu den Füßen, dort Heimdal mit seinem großen Gjallarhorne; so daß, wenn die Mutter zu Weihnacht, oder, um einen stattlichen Gast zu ehren, die kostbaren, goldverbrämten Wandteppiche mit ihren eingewirkten Figuren aus der Truhe holte, und mit den Mägden in der

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Emil Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/216&oldid=- (Version vom 1.8.2018)