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Kapitel 2.

Die Kindheit.

Im Norden von Island am Midfjord[1] zwischen schwellenden Wiesen lag der Edelsitz Bjarg. Hier hauste Asmund[2] mit dem Beinamen Haerulang, d. h. der Grauhaarige, aus vornehmem Geschlecht, denn er war dem Könige von Norwegen, Olaf dem Heiligen, verwandt. Ihm zur Seite saß sein ehelich Gemahl Asdis[3], klug und fromm, häuslich und fleißig. Sie war ein Weib mit starkem Herzen. Und ein starkes Herz brauchte sie, denn sie war von Gott zu vielen Leiden bestimmt. Beiden wuchsen auf zwei Töchter und drei Söhne. Die ältere Tochter Thordis[4] war an den edlen Glum[5] vermählt, den Sohn des Uspak[6], welcher auf dem Edelsitze Skridinsenne[7] wohnte. Und die jüngere Ranveig[8] war vermählt an Gamle[9], den Sohn des Thorhall[10], welcher am Hrutafjord[11] auf dem Gute Melar hauste. Beide verließen früh der Eltern Haus, welches nun belebt wurde durch zwei heranwachsende Söhne. Denn der Aelteste, Thorstein[12], hatte auch bereits das Vaterhaus verlassen und sich in Norwegen, wo die Familie herstammte, in Tunsberg auf einem stattlichen Hofe angesiedelt. Von diesen zwei letzten Söhnen, die noch im Elternhause aufwuchsen, war Atle[13] der ältere, freundlich und folgsam, mild und gutherzig, des Vaters Liebling. Der Jüngere war Gretter[14]. Er ist der Held unseres Buches. Sein Name bedeutet Schlange. Und wie die Schlange des Feldes war er klug und listig zugleich. Seine Zunge war scharf und trotzig sein Sinn, sein Wesen zu Gewaltthätigkeit geneigt. Dabei war er auch körperlich häßlich. Brennend rot sein Haar und voll Sommersprossen sein Gesicht. Bis zum zehnten Jahre blieb er klein, dann wuchs er, aber mehr in die Breite als in die Höhe und wurde der stärkste Mann auf ganz Island. Sein Vater mochte ihn nicht, aber um so zärtlicher liebte ihn seine Mutter.

„Gretter, du bist zu wenig nütze,“ sprach eines Tages zu ihm sein Vater, „und doch zu alt, um nur zu spielen. Ich will versuchen dir eine Arbeit zu geben: Geh’ hinaus und hüte die Gänse.“

„Das ist keine Heldenthat,“ sagte Gretter, „doch gut für einen Thunichtgut!“ Der Vater sagte: „Auch kleine Arbeit, gut gethan, findet ihr Lob!“ –


Anmerkungen (Wikisource)

  1. isl. Miðfjörður am Húnaflói.
  2. isl. Ásmundur Þorgrímsson hærulangur
  3. isl. Ásdís Bárðardóttir
  4. isl. Þórdís
  5. isl. Glúmur Óspaksson
  6. isl. Óspakur
  7. isl. Skriðinsenni (in den Westfjorden)
  8. isl. Rannveig
  9. isl. Gamli Þórhallsson
  10. isl. Þórhallur
  11. isl. Hrútafjörður
  12. isl. Þorsteinn
  13. isl. Atli
  14. isl. Grettir


Empfohlene Zitierweise:
Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/21&oldid=- (Version vom 1.8.2018)