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So schritt er weiter, das Herz erfüllt von der Verantwortung für das Leben zweier Menschen, die sich ihm anvertraut hatten.

Nun war die Mitte des Flusses überschritten, nun sank das Wasser wieder von Gretters Schultern bis zu Gretters Brust, von der Brust bis zu seinen Knien. Das jenseitige Ufer wurde erreicht.

Steinvoer öffnete ihre Augen, und glitt am nassen Arm des Gretter hinab. Er hatte Mutter und Kind sorglich so hoch über der Flut gehalten, daß sie, von den Wellen unberührt, fast ganz trocken geblieben waren.

Sie verabschiedete sich mit herzlichem Dankeswort, und Mutter und Kind schritten, das Ufer entlang, auf ihre Kirche zu.

Der Priester Stein auf Eyjadalsau war sehr erstaunt, als er Steinvoer unter den Festbesuchern seiner Kirche sah.

„Wie hast du es nur möglich gemacht, heute über den Fluß zu kommen?“ – fragte er sie.

„Weiß ich es doch selbst nicht“, gab sie zur Antwort „wer mich hinübergetragen hat! – War es ein Mann? – War es ein Troll? – Genug, er hatte Riesenkräfte!“ –

„Ein Troll würde dir nicht auf dem Gang zu unserem Gotteshause geholfen haben“ , sagte der Priester. „Da kannst du sicher sein. Die Trolle hassen das Kreuz, und in keiner Zeit des Jahres sind sie zorniger, als in dieser heiligen Nacht, wo der Held geboren wurde, der ihnen das Reich genommen hat. Dein Hof hat diesen ihren Zorn reichlich erfahren!“ –

Steinvoer seufzte bei diesen Worten tief auf. Sie dachte nach Hause, und an die Opfer, welche die heilige Nacht schon zweimal dort gefordert hatte, und vielleicht auch dieses Jahr fordern würde.

„Sei überzeugt, Steinvoer,“ sagte der Priester, „es war ein Mensch, der dich über den Fluß trug, wenn auch gewiß kein gewöhnlicher. Denn die That ist unvergleichlich! Vielleicht ist er dir von Gott als Retter zugesandt, um dein Unglück zu wenden!“ –

Steinvoer sah dem Priester gläubig dankend in die Augen für dieses Trostwort.

„Doch, sprich nicht,“ setzte Stein hinzu, „mit vielen Leuten über diese Sache! – Verschließ es in dir selbst! – Es ist so besser!“ –

Als der Vespergottesdienst zu Ende war, ging Steinvoer mit in’s Pfarrhaus, um dort zu nächtigen.

Empfohlene Zitierweise:
Emil Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/203&oldid=- (Version vom 1.8.2018)