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sehen, da sahe er, wie sich das Gespenst über ein ganzes Dach ausbreitete. Darüber fiel er in Ohnmacht, und wäre ihm nicht Jemand zu Hilfe gekommen, so hätte er wohl seinen Geist aufgeben müssen.

Einst kam ein witziger Pfarrer in das Städtchen Mutzschen und fragte, ob es denn wahr sei, daß es auf dem Schlosse so umgehe, wie man sage. „Freilich,“ ward ihm geantwortet, „gehet selbst hinauf, wenn Ihr es nicht glauben wollt.“ Er geht also allein hinauf und lockt das Gespenst mit Aeußerungen, als: „bist Du denn da? komm her, laß Dich sehen!“ etc. Allein das Gespenst erschien nicht, sein Muthwille blieb unvergolten und er ging also wieder hinab und sagte, er sehe wohl, daß Alles Lüge sei, was man ihm so oft schon zu Ohren gebracht, er könne gar nichts erblicken. Da antwortet man ihm: „die Sache ist leider nur allzu gewiß, habt Ihr ein muthig Herz, so verziehet nur ein wenig, es ist bald halb Eilf; demnach gehet noch einmal hin, Ihr werdet schon zur Genüge von dem Geiste bekommen!“ Der Pfarrherr wagt’s auch, ruft abermals wie zuvor, und wie er nochmals meint, er sei umsonst gegangen, da sieht er von ungefähr vor sich hinauf und wird gewahr, daß über den Balken ein ungeheurer Geist[1] mit einem häßlichen Elephantenrüssel liegt und auf ihn los zielt. Darüber ist er so erschrocken, daß er die Treppe herabstürzte und für todt aufgehoben ward.

Der adelige Besitzer des Schlosses besaß nun aber neben


  1. Nach der Volkssage wäre dieser der Geist jenes frühern Besitzers, eines Generals, den August der Starke wegen Unterschleifen hinrichten ließ und der, ehe er nach Dresden ging um sich seinem Richter zu stellen, erst seine großen Schätze mit einem Maurer, den er aber nach vollbrachter Arbeit selbst ermordete, irgendwo vermauert haben soll. Dieses Gespenst hat sich übrigens noch bis in dieses Jahrhundert sehen lassen. Die Familie Lüttichau, der das Schloß gehörte, zog deshalb sonst auch nur wenige Wochen im Jahre hin und die Gattin eines der letzten Besitzer, die kurz vor ihrem Ende daselbst einige Wochen wohnte, hat es durch Rufen und Thürwerfen so geängstigt, daß sie bald darauf starb. Auch die in der Dienerstube sitzende Kammerfrau ward mehrmals bei ihrem Namen zu ihrem Herrn gerufen, wie sie mir selbst erzählte, ohne daß Letzterer es gethan hatte.
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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_345.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)