Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 304.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

weinten und jammerten manches Jahr um ihr verlornes Töchterlein und hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, sie jemals wieder zu sehen, da sprach einmal ein fremder Pilger in ihrem Schlosse ein, und gab sich als den frommen Bruder zu erkennen, der ihre Tochter einst im Christenglauben unterwiesen habe. Er erzählte ihnen, ihre Tochter sei von jenem böhmischen Zauberer in sein Schloß entführt worden, derselbe habe sie aber durchaus nicht zu überreden vermocht, die Seinige zu werden, im Gegentheil habe sie sich laut zum Christenthum bekannt, und sei schon seit einem Jahre selig dahingeschieden, wenn sie sie aber noch einmal sehen wollten, möchten sie nur am nächsten Vollmondabend auf den Kottmarberg gehen, wo sie sie wiederfinden würden. Als nun die betrübten Aeltern zur bestimmten Zeit auf dem Berge erschienen, da sahen sie, wie sich im Felsen ein weites Felsenthor öffnete, welches zu einem mit tausend Lampen erleuchteten Gewölbe führte; mitten in diesem stand ein krystallner Sarg[1], und in diesem lag ihre Tochter, rosig und holdselig, wie sie im Leben ausgesehen hatte. Sie knieeten an ihrem Sarge nieder, und von nun an war es bis an ihren erst nach langen Jahren erfolgten Tod ihre einzige Freude, jeden Abend sich an jenem Felsenthor einzufinden, welches sich auch jedes Mal vor ihnen öffnete, und an der letzten Behausung ihrer Wiarda zu beten. Nach ihrem Willen wurden sie in demselben Gewölbe beerdigt, das sich aber ihren Särgen zum letzten Male öffnete, und sich dann jedem menschlichen Auge für immer schloß; das einzige Zeichen aber, daß ihre Körper dort ruhen, sind noch jetzt drei Flämmchen, die am Abend an jener Stelle des Felsens herumhüpfen.


  1. Knüpfte sich diese Sage, die Vieles von dem unter dem Namen Schneewittchen bekannten Kindermärchen (bei Grimm, Kinder- und Hausmärchen Bd. I. Nr. 53.) hat, nicht an eine bestimmte Localität, so würde sie hier eben so gut ausgeschlossen worden sein, als die von Haupt und Schmaler, Wendische Volkslieder Bd. II. S. 259. sq. v. Pescheck bei Büsching a. a. O. Bd. II. S. 17. sq. u. v. Haupt in d. Zeitschr. f. deutsches Alterth. Bd. I. S. 202. sq. II. S. 481. sq. etc. u. im Sagenbuch d. Lausitz Bd. II. S. 195 fgg. mitgetheilten wendischen Märchen.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_304.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)