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704) Sage vom Galgenberg bei Brambach.
Bearbeitet von Julius Schanz, metrisch behandelt von Fr. Rödiger.

In Brambach ertönte eines Morgens früh das Armensünderglöcklein: ein junges Mädchen mit schwarzen Schleifen in den Haaren und schwarzen Schleifen an dem Kleide, saß auf dem Karren und sollte zum Richtplatz gebracht werden. Viel Volks begleitete den Zug; doch fehlte, als man am Galgenberge ankam, noch das letzte Entscheidungswort, vor dessen Eintreffen die Hinrichtung nicht stattfinden durfte. Der Reiter, der darnach ausgeritten war, ließ sich endlich am Rande des Waldes erblicken. Wenn er mit dem Tuche wehte, solle der Urtheilsspruch vollzogen werden, so war es verabredet, und siehe! er nahm das Tuch heraus und fuhr damit über die Stirn, indeß er sein Roß jedoch zu immer größerer Eile anspornte. Man glaubte das Zeichen in dem verabredeten Sinne verstehen zu müssen und der Kopf des Mädchens fiel auf das Schaffot, als der Reiter in athemloser Hast heransprengte und dem Henker entgegen rief: „Warum habt Ihr ein unschuldiges Mädchen gerichtet? Sie war freigesprochen!“ – „Ich habe recht gerichtet,“ sprach der Henker; „ist’s ein Mord, so ist’s die Schuld des Richters.“ „Euer ist die Schuld,“ sprach der Richter zu dem Boten, „Ihr winktet mit dem Tuche, wie es verabredet war.“ – Da löste sich das grauenvolle Mißverständniß: der Reiter hatte das Tuch nur entfaltet, um sich den Schweiß von der erhitzten Stirn zu trocknen, denn er hatte sich und sein Roß in Angst und Schweiß geritten, um nicht zu spät zu kommen! – – „Ich bitte,“ sprach der Bote mutherfüllt, „nicht um Gnade; laßt mich die Strafe des Mordes tragen.“ – Tiefe Stille lag auf der Menge: der Henker schlug dreimal an’s Becken, das einen grellen Ton gab, und der Richter sprach zu dem Unglücklichen: „Du bist des Schwertes schuldig!“ – Nicht der Bote, aber die versammelte Menge und selbst der Henker erschrack vor diesem harten Spruche. Der Bote zog sein Schwert, hieb seinem Pferde mit einem kräftigen Schlage den

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_096.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)