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Wenn man so denkt, unterscheidet man nicht die Gebrauchsweisen des Wortes „ist“. In den letzten beiden Beispielen dient es als Copula, als blosses Formwort der Aussage. Als solches kann es zuweilen durch die blosse Personalendung vertreten werden. Man vergleiche z. B. „dieses Blatt ist grün“ und „dieses Blatt grünt“. Wir sagen dann, dass etwas unter einen Begriff falle, und das grammatische Prädicat bedeutet dabei diesen Begriff. In den ersten drei Beispielen wird dagegen das „ist“ wie in der Arithmetik das Gleichheitszeichen gebraucht, um eine Gleichung[1] auszusprechen. Im Satze „der Morgenstern ist die Venus“ haben wir zwei Eigennamen „Morgenstern“ und „Venus“ für denselben Gegenstand. In dem Satze „der Morgenstern ist ein Planet“ haben wir einen Eigennamen: „der Morgenstern“ und ein Begriffswort: „ein Planet“. Sprachlich zwar ist nichts geschehen, als dass „die Venus“ ersetzt ist durch „ein Planet“; aber sachlich ist die Beziehung eine ganz andere geworden. Eine Gleichung ist umkehrbar; das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff ist eine nicht umkehrbare Beziehung. Das „ist“ im Satze „der Morgenstern ist die Venus“ ist offenbar nicht die blosse Copula, sondern auch inhaltlich ein wesentlicher Theil des Prädicats, so dass in den Worten: „die Venus“ nicht das ganze Prädicat enthalten ist[2]. Man könnte dafür sagen: „der Morgenstern ist nichts Anderes als die Venus“, und hier haben wir, was vorhin in dem einfachen „ist“ lag, in vier Worte auseinander gelegt, und in „ist nichts Anderes als“ ist nun „ist“ wirklich nur noch die Copula. Was hier ausgesagt wird, ist also nicht die Venus, sondern nichts Anderes als die Venus. Diese Worte bedeuten einen Begriff, unter den freilich nur ein einziger Gegenstand fällt. Aber ein solcher Begriff muss immer noch von dem Gegenstande unterschieden werden[3]. Wir haben hier ein Wort: „Venus“, welches nie eigentlich Prädicat sein kann, wiewohl es einen

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: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 16. Jahrgang. O. R. Reisland, Leipzig 1892, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gottlob_Frege,_Ueber_Begriff_und_Gegenstand,_1892.pdf/5&oldid=- (Version vom 17.8.2017)
  1. Ich brauche das Wort „gleich“ und das Zeichen „=“ in dem Sinne von „dasselbe wie“, „nichts Anderes als“, „identisch mit“. Man vergl. E. Schröder’s Vorlesungen über die Algebra der Logik (Leipzig 1890) 1. Bd. § 1, wo jedoch zu tadeln ist, dass zwischen den beiden grundverschiedenen Beziehungen des Fallens eines Gegenstandes unter einen Begriff und der Unterordnung eines Begriffes unter einen Begriff nicht unterschieden wird. Auch geben die Bemerkungen über die Vollwurzel zu Bedenken Veranlassung. Das Zeichen ⊆ bei Schröder vertritt nicht einfach die Copula.
  2. Vgl. meine Grundlagen § 66 Anm.
  3. Vgl. meine Grundlagen § 51.