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ihm ein Finger von des Kindes Händchen in seiner Hand, denn es war schon ganz zerkocht. Und er schlug seinen Kopf wider die Wand und er lief in das Lehrhaus und er schrie zu seinen Schülern: »Trauert ob meines leidigen Sterns, das ist nun das Beinchen von meinem zehnten Kind, das ich aufgebraucht habe zum Opfer vor Gott.«

Und von damals an hing er sich das Beinchen an seinen Hals zum Gedächtnis. Und wenn ein fremder Schriftgelehrter zu ihm kam, so wies er ihm das Beinchen vor mit ruhigem Gemüte, als wenn er ihm sein Kind weisen wollte. Nun, meine lieben Kinder, wenn das dem frommen, braven Reb Jochanan – er ruhe in Frieden – geschehen ist, was soll einem anderen erst geschehen. Denn der Rabbi Jochanan ist ein großer Schriftgelehrter gewesen. Er hat gelernt Thora, Mischna und Talmud; er hat auch Kabbala und das Wesen der Schöpfung verstanden. Er konnte die Engel beschwören und die bösen Geister. Er war ein großer Kabbalist. Er verstand die Sterne am Himmel zu deuten und verstand auch, was die Blätter der Bäume erzählen – und doch kam ihm solcher Kummer zu. Und er nimmt es an für gut und er blieb ein frommer Mann bis an sein Ende.

Also, meine herzigen Kinder, ich weiß es wohl, daß manche bedrückt sind mit Geld verlieren, auch Kinder verlieren, aber was hilft all unser Gram und Jammer? Wenn es noch was helfen sollte. Aber es ist alles umsonst. Wir kränken unseren Körper und tun unserer Seele auch zu kurz; indem wir uns so grämen, schwächen wir unseren Körper und können mit einem traurigen Körper dem Höchsten nicht recht dienen. Denn der heilige göttliche Geist ruht auf keinem traurigen Körper. Als vor Zeiten die Propheten wollten, daß der göttliche Geist auf ihnen ruhen sollte, haben sie allerhand Musikinstrumente genommen und haben vor sich her spielen lassen, damit der Körper soll lustig sein, wie in unseren Büchern ein Mehreres davon steht.

Ich, eure Mutter, habe bei Lebzeiten mit meinem Mann – das Andenken des Gerechten gesegnet – ein Kind von ungefähr drei Jahren verloren, welches seinesgleichen nicht

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Glikl bas Judah Leib: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Wien, 1910, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Glueckel_121.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)