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die Wahrheit vielmehr darin besteht, daß der normale Lebensproceß ein Kreislauf ist, welcher das anfänglich freilich noch unvollkommne Erkennen mittelst der gläubigen Aneignung der Gnade im Willen und Gefühl auf die Stufe christlicher Erleuchtung erhebt. Ebenso ist es freilich eine der äußersten Verkehrtheiten der sogenannten Orthodoxie gewesen, wenn sie die Wirkung des Wortes Gottes von dem Amt und der Amtsgnade bedingt sein ließ. Damit wird ja, im Widerspruch mit dem materialen Princip der Reformation der Genuß des Heiles noch von weiteren Heilsbedingungen abhängig gemacht, als von Wort und Glauben. Allein wenn der Pietismus sich dazu fortreißen ließ, daß, weil nur ein Wiedergeborner ein wahrer Theolog sei, auch nur die von einem Wiedergebornen kommende Predigt zum Heil wirksam sein könne: so tritt das nicht minder als jene These der sogenannten Orthodoxen der Selbstständigkeit des Wortes, und der in der christlichen Wahrheit als solcher beschlossenen Kraft zu nahe. Dagegen der häufige Vorwurf, daß der Pietismus Wort Gottes und Sakramente verachte, ist eine falsche Beschuldigung; denn er will zwar eine unmittelbare aber darum nicht eine unvermittelte Gemeinschaft mit Gott im heiligen Geist. Die Vermittelung ist ihm das Wort. Vom heiligen Abendmahl sagt Spener sogar, daß es das vornehmste Mittel sei, dadurch wir der göttlichen Natur sollen theilhaft werden, was die Wittenberger Facultät so wenig ächt lutherisch fand, daß sie dem entgegenstellte: Das Abendmahl ist zwar ein kostbarer Schatz, aber keineswegs dem Wort oder der Taufe vorzuziehen.[1] Nur der Kindertaufe konnte der Pietismus nicht die hohe Bedeutung geben, wie die Orthodoxen, die das opus operatum nicht scheuten. Die Betonung der subjectiven Seite im Heilswerk, und das Gewicht, das auf das Bewußtsein vom Gnadenstand gelegt wurde, mag sogar dem Pietismus nicht selten die Wichtigkeit einer Entwicklung des christlichen Selbstbewußtseins auf der Basis der persönlichen durch die Taufe bezeugten zuvorkommenden Gnade Gottes verdunkelt haben.

Man sieht, der Pietismus mit dem was ihm eigenthümlich ist, kann das Bedürfniß der Regeneration der Kirche in Wissenschaft und Leben nicht genügend befriedigen. Er kann so wenig die Stelle der ganzen Kirche


  1. Schmid, a. a. O. S. 245.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_643.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)