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Weltbewußtseins und besonders bei einer richtigeren Erkenntniß des Verhältnisses zwischen der ersten und zweiten Schöpfung, wäre vielleicht doch der Energie des ethischen Triebes in ihm möglich gewesen, eine befriedigendere Stellung zur Kirche, zum Staat, zur Wissenschaft, zur Kunst, zum socialen Leben einzunehmen. Aber theils auf sich zurückgeworfen, theils das All des wahren christlichen Lebens in dem Rahmen seiner Bestrebungen findend, hat er sich in eine Enge zusammengezogen, die alle jene Gebiete zu wenig würdigte, sowohl an sich als im Verhältniß zum Christenthum, und den Geist zu einer neuen Form mönchischer Lebensanschauung innerlich disponirte. Um nur bei der Wissenschaft stehen zu bleiben, so weiß der Halle’sche Pietismus ihren Werth keineswegs gerecht zu würdigen. Denn nicht bloß will er, unter Verkennung der ganzen großen sittlichen Aufgabe des Menschengeschlechts nur das der Religion unmittelbarer dienende Wissen gelten lassen, und stellt so die Wahrheit, statt sie in ihrer objectiven Selbstständigkeit und Heiligkeit anzuerkennen, unter den einseitigen Gesichtspunkt des Erbaulichen d. h. des für die Frömmigkeit Nützlichen, sondern er hat auch in dem Streit über die theologia irregenitorum, in welchem er mit Recht die Sprache des religiösen Gewissens dem leichtfertig gewordenen Scholasticismus entgegen führt, doch gar nicht ausschließlich Recht, sobald er sich wissenschaftlich ausspricht. Und zwar nicht bloß, weil mit seiner Forderung: der wahre Theolog müsse auch ein Wiedergeborner sein, zugleich ein praktischer Grundsatz für die Kirchenleitung und die Wahl der Personen ausgesprochen schien, der nicht ohne Aufstellung willkürlicher Kriterien der Wiedergeburt, und nicht ohne die Gefahr Heuchelei und Fanatismus zu begünstigen, durchführbar wäre. Sondern wenn er dem Satz der sogenannten Orthodoxen: „daß wahre Erleuchtung schon vor der Wiedergeburt stattfinden könne durch Berührung mit den Gnadenmitteln, ja daß sie es müsse, weil erst aus solcher Erleuchtung die Wiedergeburt folgen könne,“ entgegenstellt: Die Wiedergeburt müsse allem wahren Erkennen vorangehen, so ist auch dieses einseitig und das Moment des Erkennens der objectiven Wahrheit für die gesunde Frömmigkeit unterschätzt. Eine Wiedergeburt, der nicht eine wahre Erkenntniß von Gottes Gesetz, eine sittliche Selbsterkenntniß, ja auch eine Sehnsucht oder Ahnung des Heiles vorangeht, könnte, da sie das Erste sein müßte, nur in blinder magischer Weise über den Menschen kommen. Man wird also keinem der streitenden Theile hier ganz Recht geben können, weil

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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_642.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)