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sieht man auf das oberste im Pietismus geltende Motiv, so ist es die „Sorge für das Heil der eigenen Seele,“ welches nach Gottes Gesetz einem unthätigen Glauben nicht zu gute kömmt. Aber damit ist der Mensch noch nicht über die Gesetzlichkeit und über die Furcht hinaus: er hat noch nicht die Liebe gegen den Nächsten zum treibenden Motiv, denn die Liebe sucht was des Andern ist, macht ihn zum Zweck, nicht bloß zum Mittel, um durch Erfüllung der Pflichten an ihm die eigne Seligkeit sicher zu stellen. Neigt also die lutherische Orthodoxie dazu, bei dem Glauben als dem Besitz der Versöhnung, dem religiösen Princip des neuen Lebens, stehen zu bleiben, und das Princip zu genießen statt es als Anfang und treibenden Impuls zur Thätigkeit zu verwenden, so will der Pietismus zwar nicht in spiritualem Egoismus d. h. in geistlicher Genußsucht stehen bleiben, er predigt den „thätigen Glauben“ und er verleibt dadurch das Wesen der reformirten Glaubensauffassung auch der lutherischen Kirche ein. Aber dieser „thätige Glaube“ hat doch gleichfalls die Schranke des Ich noch nicht wahrhaft durchbrochen, da sein Heil und dessen Bewahrung, nicht aber das Heil des Nächsten das Motiv bildet, die Triebfeder also noch die Sorge für sich selbst, nicht die selbstvergessene Liebe ist. Mit diesem Mangel in dem ethischen Wesen des Pietismus hängt es nun zusammen, daß derselbe etwas Gebundenes, Unfreies, in der Pflichtmäßigkeit Aengstliches, aber nichts freudig Schaffendes hatte. Diese Art, den Nächsten entweder nur als Mittel für das eigne Heil, als Stoff der Pflichterfüllung oder als Mittel für Gottes Ehre zu verwenden, enthält nun, weil die Liebe durch Pflicht ersetzt werden soll, den innern Grund von dem Mangel an wahrhaft kirchlichem Sinn in dem Pietismus. Der kirchliche Sinn der Orthodoxen mag allerdings oft genug nur der natürlichen Liebe entstammt sein, während der Pietismus durch Negation des bloß Natürlichen eine höhere Lebensstufe suchte. Aber da er, wie gezeigt, statt in der selbstvergessenen aus dem Glauben gebornen freien Liebe das Höchste zu erkennen, auf der Stufe stehen blieb, wo das Subject mit sich selbst und seinem Heil beschäftigt, Alles auf diesen Zweck bezieht und als Mittel dafür verwendet, so verlor er die alten, natürlichen Bande der Anhänglichkeit an die äußere Volks- und Kirchengemeinschaft (die ihm auch durch Verfolgung wie durch seine eigne Spannung mit der Welt gelockert wurden), ohne sie durch das neue, höhere Band der christlichen Liebesgemeinschaft ersetzen zu können. Bei einer reicheren Ausbildung des

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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_641.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)