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Neues mehr zu beschaffen, sondern nachdem das Höchste schon gewonnen, dieses nur zu bewahren sei, bis ein neues ebendaher sehr nahe gedachtes Stadium mit dem Jenseits beginne, ein Zurückrufen zu der Arbeit auf Erden, zu den ethischen Werken des Diesseits. In dieser unscheinbaren Hülle „der Hoffnung besserer Zeiten noch auf Erden“ beginnt bereits wie im zweiten Jahrhundert – da nicht sentimentale Schwäche, sondern ein straffer ethischer Sinn diese Hoffnung hegt – das Bewußtsein davon zu tragen[In der Vorlage: tagen], daß die evangelische Kirche gerettet im Todeskampf des dreißigjährigen Krieges noch eine große weltgeschichtliche Aufgabe an sich und an der Welt zu lösen habe: ja der Pietismus hat das große Verdienst, noch in die Anfänge dieser neuen Bahn eingeleitet zu haben. Das zeigen mikrokosmisch weissagend die manchfachen hallischen Anstalten;[1] das zeigt der durch ihn erwachende Missionssinn, wie denn die Bekehrung der Juden ein Glaubensartikel Speners war, während in der Orthodoxie der Missionssinn für Heiden und Juden noch völlig schlummerte.

Diese Lichtseiten des Pietismus schließen nun aber keineswegs ein, daß Speners Standpunkt schon befriedigend heißen könne für die evangelische Kirche, oder gar daß der Pietismus im Allgemeinen tadellos dastehe. Allerdings trägt an seinen Fehlern eine Hauptschuld der Widerspruch und die Feindschaft theils des weltlichen Sinnes überhaupt, theils derer, welche die Kirche zu vertreten meinten und ihn, der ursprünglich für die ganze evangelische Kirche sein wollte, in sich zurückwarfen, wodurch er Schärfen und eine gewisse Enge annahm, die er bei Spener noch nicht hatte, wo er noch weich und kirchlich bildsam gewesen wäre. Aber er hat sie auch nicht abgestreift, als er zur Herrschaft gekommen war, und die Stelle der alten Orthodoxie gleichsam zu ersetzen hatte.

Das zeigt sich schon an der Auffassung des Ethischen. Der Inhalt der pietistischen Ethik zu der vom lebendigen Glauben aus fortgeschritten werden will, ist eigentlich doch fast nur wieder die Frömmigkeit selbst. Er gelangt wenigstens für die Erde nicht zur Idee einer lebensvollen, manchfaltigen Welt, die vom Geiste der Religion beseelt, alle Kräfte und Anlagen der ersten Schöpfung durch das Princip der zweiten zur harmonischen Verwirklichung zu bringen habe, sondern das Ethische erscheint ihm nur unter dem Gesichtspunkt der Heiligung der einzelnen Persönlichkeit, d. h. in der Behauptung und Stärkung des Göttlichen von der Sünde abgewandten


  1. [Die heutigen Franckeschen Stiftungen in Halle begannen mit einem Waisenhaus und einer Schule und wurden später um die Dänisch-Hallesche Mission und die Cansteinsche Bibelanstalt, die erste Bibelgesellschaft der Welt, erweitert.]
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_639.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)