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sein unmittelbares Verhältniß zu den Seelen aufgegeben, ja seine Macht und Kraft an die Kirche mit ihren Gnadenmitteln abgetreten habe. Des Antheils am Göttlichen sollten zwar dadurch die Gläubigen nicht beraubt werden. Im Gegentheil, wie der heilige Geist nicht anders als durch die Kirche wirke, so wirke er auch zuverlässig und immerdar, wo nur mit dem Wort ein Hörer in Berührung komme. Jeder, der sich mit dem Worte beschäftige, empfange ein göttliches, sich ihm präsentirendes Licht, eine übernatürliche Ausströmung, durch die er illuminatio habe und präsumtiv im Anfang der Wiedergeburt stehe (s. o. S. 547). Aber man sieht, diese Auffassung verletzt das Grundverhältniß zwischen dem lebendigen Gott und der Creatur, ist wesentlich Deismus, auf absolut supernaturalistischer Basis in magischer Form. Von der Gemeinschaft mit Gott selbst sind wir hienach abgeschnitten; Gott hat kein lebendiges, geschichtliches Verhältniß zur Welt mehr; sondern Licht und Leben, die er mittheilen will, hat er ein für allemal auf übernatürliche Weise in das Gefäß der Gnadenmittel, besonders des Wortes gelegt, die nun wie von selbst (sponte) nach ihrer eingebornen Kraft und wie nach physischem Gesetz wirken sollen. Freilich zeigte die Erfahrung nur zu sehr, was schon in der Natur der Sache liegt, daß die Verbindung mit irgend einem endlichen Ding, und wäre es das Heiligste, uns noch nicht die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott sichert, sondern daß dazu die Erhebung über das Endliche und Sinnenfällige gehört, die in dem von Aberglauben sich unterscheidenden Glauben liegt, und daß der natürliche Mensch in seinem Wesen ungebrochen blieb, nur in Sicherheit eingewiegt durch den Wahn, zu haben was er erst suchen sollte. Solches, was nur natürlicher Art ist, wurde in pelagianisirender Weise, wie J. Lange richtig erkennt, für göttlich genommen, dagegen eine höhere, innigere Theilnahme an dem Göttlichen für unmöglich angesehen und der Glaube an eine fortgehende That des heiligen Geistes zur Erleuchtung und Wiedergeburt als Schwärmerei und Enthusiasterei gebrandmarkt.

In nichts zeigt sich so klar als hier, wie das ursprüngliche, lebendige Gottesgefühl für die sogenannte Orthodoxie versiegt war, wie sie sich rein im Gebiet der Mittelursachen umzutreiben gewöhnt hatte, indem jede Erinnerung an ein lebendiges Fortwirken des heiligen Geistes ihr etwas Ueberschwängliches, Unglaubliches, ja Kirchengefährliches schien, und es ist bezeichnend für die Mattigkeit des religiösen Pulses in damaliger Theologie, daß

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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_635.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)