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zwischen den zum thätigen Christenthum zu erziehenden oder erzogenen und mitwirkenden Brüdern. Den christlichen Laien soll nicht bloß das Recht beiwohnen, Opfer des Gebetes für sich und Andere Gott darzubringen; sie sollen auch im Haus und unter Freunden des priesterlichen Amtes warten, die Kirche auch im Haus erbauen helfen und das Recht haben, zumal unter Leitung des Geistlichen, sich gegenseitig aus Gottes Wort zu erbauen, und in frommen Versammlungen den Mund zu Frage und Antwort aufzuthun. Könnte die ganze Gemeinde in geordnete Abtheilungen sich gliedern mit Laienvorständen für solche Versammlungen unter Leitung des Geistlichen, um so besser. Denn auch für die Organisirung der Gemeinde hat Spener einen offenen Blick. Er will in enger Verbindung mit der bürgerlichen Gemeinde und ihrer Obrigkeit presbyteriale Einrichtungen besonders für Kirchenzucht, Predigerwahl und dergl., eine Einrichtung, die freilich in zu sehr bürgerlicher Zusammensetzung durch die Kirchenconvente Württembergs von Val. Andreä um 1640 schon theilweise verwirklicht war.

Den Schlußstein bildete die Sittenverbesserung. Die religiöse Kirchengestalt sollte nun auch zur ethischen fortschreiten. Heiligung des ganzen Lebens soll ernste und vornehmste Arbeit der Christen werden. Zu dem Ende soll von der christlichen Sitte alles verpönt sein, was einer schädlichen Weltliebe Vorschub leistet und zerstreuend, zerstörend auf die ernste Sammlung wirkt, welche zur christlichen Charakterbildung erforderlich ist. Dahin wird gerechnet Tanz, Theater, Spiel, Kleiderpracht, Gelage, leichtfertige oder unnütze Gespräche und Lectüre. Spener selbst ging in dieser Hinsicht nicht so weit als der spätere Pietismus. Er erkannte sogar sittliche Mitteldinge (Adiaphora)[1] an und wollte alle jene Genüsse nur in so weit einschränken, daß er das Uebermaß verwarf, das sich ihm nach der Forderung bemaß, daß erlaubte Genüsse der Seele nicht schaden dürfen, dem Leib aber Erholung und Stärkung bringen müssen.

Die sogenannten Orthodoxen nahmen Anfangs diese Vorschläge Speners günstig auf; so nicht bloß Balth. Mentzer[2] in Gießen, sondern auch Schelwig, J. B. Carpzov und J. F. Mayer hatten nur die wärmsten Worte der Anerkennung und Empfehlung, selbst der Collegia pietatis, so lange der Regenerationsversuch nur im Reich der Worte und Gedanken oder in ferner Vereinzelung blieb. Als die Sache näher an sie herantrat mit ihren persönlichen Anforderungen und ihre gewohnte Lebensweise


  1. [Adiaphora, grch.: „nicht Unterschiedenes“ bezeichnet ethisch bzw. geistlich neutrale Eigenschaften, Gegenstände und Verhaltensweisen]
  2. [Balthasar Mentzer der Jüngere, 1614–1679]
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Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_631.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)