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Ein leichtfertiger Bube wollte einmahls in heissen Sommer-Tagen in dem Strome baden, nebenst andern muthwilligen Knaben, wagete sich aber zu weit in den Strom, und wurde von demselben in eine gefährliche Tiefe geführet, in welcher er auch schon unterzusincken anfieng. Als aber die andern Knaben hierüber heftig anfiengen zu schreyen, lief ein ehrlicher Mann aus Mitleiden zu, sprang mit großer Gefahr in das Wasser, erhaschte den schon ertrinckenden bey den Haaren, und brachte ihn also mit grosser Mühe aufs trockene. An statt aber, daß der undanckbare Vogel die Wohlthat erkennen, und sich dafür hätte bedanken sollen, lästerte er den ehrlichen Mann, und warf mit Steinen nach ihm, daß er ihn geraufft hätte. Also gehet es auch treuen Predigern und Lehrmeistern, welche man mehrentheils mit Undanck und Schelt-Worten lohnet, wenn sie ihre Zuhörer aus denen vielen gefährlichsten Lastern heben, und mit großer Mühe heraus reissen.

Spectrum Mansvetudinis.

Es rühmte ein Hund seine Sanftmuth gegen die andern, und vermahnete sie, daß sie ins künftige nicht mehr die unschuldigen fürüber gehenden Leute anfallen sollten. Diese verwunderten sich über seine ungewöhnliche Frömmigkeit, als welche wohl wusten, daß er für dessen die Wanders-Leute bis zum Dorffe hinaus verfolget hätte. Als sie aber genau auf sein Maul Achtung gaben, nahmen sie gewahr, daß ihm seine fördern Zähne alle mit einem Steine ausgeworffen worden. Solches wird erzählet wider dieselben Heuchler, welche viel von ihrer Frömmigkeit und Sanfftmuth rühmen,

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Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen. M. G. Weidmanns Erben und Reich und Caspar Fritsch, Leipzig 1769, Seite XL. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gellert_Schriften_1_A_041.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)