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der Nahrung wächst der wüthende Hunger. Durch Befriedigung vergrößern sich immer die Bedürfnisse, das Gewöhnliche, das Einfache, das Natürliche kann nicht mehr genügen, und jetzt wird erkünstelt, tausendfältig zusammengesetzt, bis zum Unnatürlichen, zum Eckelhaften verfeinert jeder Genuß. Erschlaffter und reizbarer zugleich werden die Organe des Genusses, und so bemächtigt sich Wollust des Menschen, die auslöscht allen Adel der Seele; feige und weichliche Erbärmlichkeit, die dem Geiste die Schwingen zerbricht, und über dem Nichtigsten und Unbedeutendsten sich freuen und ängsten kann, als ob es das Köstliche wäre; karakterlose Treulosigkeit, die jetzt vor dem Heiligsten kniet, jetzt Hohn spricht demselben und lästert, die süßzüngelnd vergiftet, küssend den Freund ihm den Dolch in die Brust stößt, und nicht einmal weiß, was sie will und was sie thut! – Oft aber treibt die Begierde nicht zum Genusse der äußern Güter, sondern zum bloßen Haben derselben. Neigung zum Genusse ruft diese Begierde gewöhnlich hervor, aber Besorgniß nach dem Genusse wieder darben zu müssen, läßt sie zusam-

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Johannes Geibel: Ermunterung zur Verläugnung des ungöttlichen Wesens. Lübeck 1807, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geibel_Ermunterung18.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)