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Albrecht von Haller: Gedanken vom Saufen, und dessen Schädlichkeit aus: Der physikalische und oekonomische Patriot Oder Bemerkungen und Nachrichten aus der Naturhistorie, der allgemeinen Haushaltungskunst und der Handlungswissenschaft, 3 Teil, 3 Quartal, S. 296–309

Werkzeuge unserer Sinne. Der geringste Grad der Trunkenheit erhöhet alle unsere Empfindungen, und macht gleichsam die Nerven scharfsinnig. Man sieht in diesem Zustande alle Gegenstände in einem lebhaftern Lichte, man höret schlauer, der Geschmack wird gefälliger, alle Nerven regen sich und lauren auf neue Eindrücke, die Einbildungskraft wird lebhafter und wärmer, der Witz wird muthwillig, die Leidenschaften wachen auf, der Leichtsinn umflattert die Vernunft, die Gravität des Charakters beginnet den steifen Nacken zu biegen; die wichtige Zunge des ehrwürdigen Prälaten wird geschmeidig, und findet Geschmack daran, lustige Kleinigkeiten zu lallen; der zaghafte Mund des bescheidenen Gelehrten wird beredter, und fängt an, von seiner Weisheit überzufließen; der wilde Soldat nimmt die Gefälligkeit des Stutzers an sich, und der geschwätzige feige Stutzer bekömmt einen Anfall von Tapferkeit, daß er die Kinder mit seinem parisischen Degen zu fürchten macht. In diesem Zustande würde es Zeit seyn, zu trinken aufzuhören; in diesem Zustande, da jedermann anfängt, mehr zu begehren. Setzt man aber hier der Lust noch nicht ihre Gränzen, so empfindet man sehr bald die unangenehmen Wirkungen einer allzuheftigen und unordentlichen Bewegung der Lebensgeister im Gehirne und in den Nerven. Beyde gerathen in eine Art der Betäubung, die Empfindungen werden stumpf, die Augen verwandeln sich in ein Paar Multiplicationsgläser, das Gehör verliehrt seine Schärfe, der Geschmack der Speisen wird einerley, und nähert sich, wie bey denen, die den Schnupfen haben, dem Strohgeschmacke; man trinkt nicht mehr, um den Wein zu schmecken, sondern um ihn zu verschlingen; eine Schwierigkeit der Glieder macht den Leib zu allen Bewegungen untüchtig, der Witz und die Einbildungskraft entschlafen, die Lüste werden ohnmächtig, die Menschen gehen ins Geschlecht der Thiere über, die Zungen stehen still, der Muth fällt, die Quelle der Weisheit versieget, und eine Art fallender Sucht begräbt die thierische Seele in einen schändlichen Schlaf.

Dies ist die Rolle eines Betrunkenen, welcher aber von einem Säufer darinn unterschieden ist, daß dieser sein Schauspiel alle Tage aufführet, und eben hierinn liegt der Grund seines Verderbens. Es erhellet aus der ganzen Rolle, die er spielet, wie heftig seine Lebensgeister dadurch beunruhiget, wie lebhaft seine Nerven dadurch gereizt, und wie sehr sein Gehirn mitgenommen wird. Ein Rausch ist eine Art von Nervenkrankheiten, welche ein Säufer täglich von neuem erreget; und was kann wol hieraus anders erfolgen, als daß die Werkzeuge unserer Empfindungen dadurch in kurzer Zeit geschwächt und gänzlich untüchtig gemacht werden. Nun sind aber die Werkzeuge unserer Empfindungen zugleich die Werkzeuge unserer Vergnügungen; und wir würden ohne dieselben, ich meyne ohne das Gehirn, die Nerven und die Lebensgeister, eben so gleichgültige Maschinen seyn, als die Bäume. Folglich vernichten wir durch die Völlerey unser eigenes Vermögen, uns zu vergnügen. Dieses geht so weit, daß viele Saufhelden nicht allein in kurzer Zeit den Gebrauch ihrer äußerlichen Sinne verliehren, daß sich ihr Gesicht schwächt, ihr Gehör verliehret, und alle ihre Empfindungen unzuverläßig werden; sondern daß auch ihre innerlichen Sinne einen gar merklichen Verfall leiden, und sie in eine Albernheit verfallen, welche sie zu dem Genusse aller Ergetzungen dieses Lebens untüchtig macht. Hierzu kömmt noch, daß ihnen ihre Ausschweifung selbst das Vergnügen am Trunke vergället, welches sie doch dadurch einzig und allein recht zu genießen suchen. So bald der erste Grad des Rausches dahin ist, so bald

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Albrecht von Haller: Gedanken vom Saufen, und dessen Schädlichkeit aus: Der physikalische und oekonomische Patriot Oder Bemerkungen und Nachrichten aus der Naturhistorie, der allgemeinen Haushaltungskunst und der Handlungswissenschaft, 3 Teil, 3 Quartal, S. 296–309. Grund, Hamburg 1758, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gedanken_vom_Saufen,_und_dessen_Sch%C3%A4dlichkeit.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)