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Albrecht von Haller: Gedanken vom Saufen, und dessen Schädlichkeit aus: Der physikalische und oekonomische Patriot Oder Bemerkungen und Nachrichten aus der Naturhistorie, der allgemeinen Haushaltungskunst und der Handlungswissenschaft, 3 Teil, 3 Quartal, S. 296–309

Christ und frömmste Mann einen Band Oden und Lieder auf eine eingebildete Doris und auf den Wein schreiben könnte, ohne sich damit im geringsten zu versündigen.[1] Er würde sich z. E. geschickt finden, in der lyrischen Dichtkunst vortrefflich zu werden. Er könnte sich, als ein Christ und frommer Mann, alle Tage, ohne den geringsten Nachtheil seines guten Charakters, entschließen, diese seine Gabe zur Vollkommenheit zu bringen. Er würde hierzu diejenigen Gegenstände erwählen, die sich zur lyrischen Dichtkunst am besten schicken. Er würde finden, daß dieses die süßen Wollüste der Leidenschaften wären, und er würde also dieselben zu Gegenständen seiner Dichtkunst machen, ohne deshalb die Maximen, die er Lehrte, oder die Empfindungen, die er ausdrückte, für gültig, und gerecht, und für löblich und nachahmungswürdig zu halten. Kurz, er würde, wie der Uebersetzer einer Schrift, auf eine mechanische Weise Sätze vortragen, welchen er Zeit Lebens, ausser in Gedichten, seinen Beyfall nicht geben würde, bloß um seine Stärke in der lyrischen Dichtkunst zu zeigen. So ist es. Ein epicuräischer Dichter muß nicht als ein Sittenlehrer gelesen werden. Wie sich ein Moralist grämen würde, wenn die Leser seine Predigten und Ermahnungen bloß als prosaische Gedichte läsen, die keinen andern Zweck hätten, als die schöne Art zu denken und zu schreiben ihres Verfassers der Welt vor Augen zu legen; so wehe muß es einem Dichter thun, wenn man seine üppigen Lieder für Sittenlehren hält, und sie in der Absicht lieset, um sie zu vollziehen. Gleichwol ist dieses der Fehler der meisten Leser; und selbst die, so die Lieder des Dichters für sündlich halten, müssen glauben, daß sie derselbe für Sitten- und Lebensregeln gehalten wissen wolle. Beyde sind nur darin verschieden, daß die Letztern, welche die Dichter verketzern, ihre für Sittenlehren gehaltenen Sätze verwerfen; die ersten aber, welche sie zu ihrer Richtschnur nehmen, sie billigen. Im Grunde begehen beyde einerley Fehler. Sie verfehlen den Zweck der Dichtkunst, und lesen Gedichte wie Predigten.

Die Dichter mögen zusehen, wie sie sich mit denen vergleichen können, die ihre Lieder verdammen. Ich begnüge mich hier bloß damit, sie mit den Lesern in ein gutes Verständniß zu setzen, die ihre Gedichte wie Freyers Sittenbüchlein[2] lesen. Diesen will ich rathen, daß sie keiner Sittenlehre eines lyrischen Dichters trauen, wenn sie nicht finden, daß sie in Prosa eben so leicht Beyfall erhalten würde. Die Prose muß der Probierstein der poetischen Moral seyn. Man übersetze die Stelle des Horaz[3]:


Laetus in praesens animus quod ultra est
Oderit curare;

in eine prosaische Sittenlehre: Man soll sich der gegenwärtigen Güter erfreuen, und um das Zukünftige unbesorgt seyn; so wird man leicht bemerken, daß das letztere eine poetische Freyheit ohne Klugheit seyn würde. Um bey meinem Beyspiele zu bleiben, so würde ein Säufer durch eben diese Sittenlehre, wenn er sie prosaisch verstünde, einen Freybrief zu allen seinen Ausschweifungen erhalten haben. Er würde des Guten genießen; er würde seine Fässer von Weine leeren, und unbesorgt seyn, ob sie in kurzer Zeit seinen Bauch mit Wasser anfüllen würden; er würde sich glücklich schätzen, zu trinken, und wenig darum bekümmert seyn, zu sterben; er würde unsinnig leben, um keine Zeit übrig zu behalten, vernünftig zu werden. Es wäre gut, daß die Dichter ein Privilegium erhalten könnten, nur von denen gelesen zu werden,

  1. Hagedorn’s Doris und der Wein. Google
  2. Hieronymus Freyer im VD 18 unter der Nummer 10800727
  3. Froh des Nahen meide dein Geist den Kummer
    Ueber fernes Schicksal, und mildre bittern
    Schmerz durch sanftes Lächeln. Kein Erdenloos ist
    Vollkommen glücklich.
         Horaz: Werke. Band 4. Übersetzt von Christian Friedrich Preiß. Leipzig 1809 Google
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht von Haller: Gedanken vom Saufen, und dessen Schädlichkeit aus: Der physikalische und oekonomische Patriot Oder Bemerkungen und Nachrichten aus der Naturhistorie, der allgemeinen Haushaltungskunst und der Handlungswissenschaft, 3 Teil, 3 Quartal, S. 296–309. Grund, Hamburg 1758, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gedanken_vom_Saufen,_und_dessen_Sch%C3%A4dlichkeit.pdf/13&oldid=- (Version vom 31.7.2018)