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haben, wenn sie nicht ihre theologische doctrina evangelii, sondern das Evangelium von Jesus dem Christus vor allem betont, das Evangelium, dessen sie sich auch vor dem Herrlichsten der Welt und des menschlichen Geistes nicht zu schämen braucht, weil es die Kraft Gottes ist, selig zu machen, die daran glauben. Ich wüßte nichts, was unsre Zeit geleistet hätte, um dies Evangelium entbehren und ersetzen zu können; aus ihm leuchtet nach wie vor das Licht der Welt; dies giebt der Kirche ihr Recht auch in der modernen Zeit, und wird ihr dies um so mehr wahren, als auch die Kirche das Recht jener als einer Phase in der durch Gottes Wirken sich vollziehenden Entwicklung der Menschheit anerkennt. Ich kann mich darüber, gewiß zu Ihrer Freude, kürzer fassen, da vieles, was hier zu sagen wäre, aus meiner vorigen Darlegung leicht zu folgern ist.

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 In gewisser Beschränkung gilt für die Kirche der Satz: nihil humani a me alienum puto. Sie muß sich in freundlicher Teilnahme zu der Entfaltung der geistigen Kräfte stellen, denn diese entspricht dem Willen Gottes; sonst würde er schwerlich ihre reiche Fülle in den Menschen gelegt haben. Die Wissenschaft darf nicht gehindert, auch nicht scheel angesehen werden. Aber hier wird oft von den Theologen gefehlt. Man ist leicht geneigt, ihre Arbeit gering zu schätzen, oder gar, wenn ihre ersten Ergebnisse den kirchlichen Wünschen nicht entsprechen, ihr feindliche Absicht gegen das Christentum unterzuschieben und sie darob kühn zu verdammen. Das ist weder vornehm, noch Zeichen eines starken, in seiner Burg gesicherten Glaubens. Die Wissenschaft folgt nicht willkürlichen Winken des Einzelnen; sie wird durch ihr eingepflanzte Gesetze bewegt und durch diese auch von ihren Abwegen hinweg wieder zurecht gewiesen. Ihre letzten Schlüsse können und werden dem Glauben an den Vater unseres Herrn Jesu Christi nicht widersprechen, denn er ist der eine Meister, das A und O der inneren wie der äußeren Welt. In einem schönen Bilde führt diesen Gedanken der † protestantische Pfarrer Bersier in Paris aus. Er erinnert an die Arbeiter im Libanon, welche die stolzen Cedern fällten, vielleicht ohne zu wissen, daß diese dem Tempelbau Salomonis dienen sollten, sicher ohne den

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Friedrich Meyer: Die Kirche und die moderne Zeit. Georg Wigand, Leipzig 1898, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedrich_Meyer_-_Die_Kirche_und_die_moderne_Zeit.pdf/19&oldid=- (Version vom 26.11.2016)