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mag sich zu freundlicher Geduld durch das Wort Paul Gerhards bestimmen lassen:

 Erwarte nur die Zeit, so wirst du schon erblicken, die Sonn’ der schönsten Freud.

 Freilich, das wollen wir uns nicht verhehlen, daß ängstliche Furcht für die Religion in weiteren Kreisen durch die kritische Behandlung geweckt werde, welche die vollkommene Religion, das Christentum in unsern Tagen erfährt. Denn an der Entscheidung über seine Wahrheit hängt die Wahrheit der Religion überhaupt. Ich erinnere an die gänzlich veränderte Auffassung der Heiligen Schrift. Ihre wörtliche Eingebung durch den heiligen Geist ist heute fast von allen verlassen, und damit scheint der feste Grund zu wanken, auf dem unsere Alten in trotziger Kraft wider alle Gegner die evangelische Kirche erbauten. Aber es scheint auch nur so. Der große Ausspruch im Eingang zum Johannesevangelium: das Wort ward Fleisch, will in allen seinen Folgerungen beachtet und nachgewiesen sein. Die Offenbarung Gottes in Christus kann von ihren Zeugen nur zeitgeschichtlich und individuell bedingt aufgenommen und angeeignet werden; sie muß in die Eigentümlichkeit der einzelnen Person, je nach der Fassungskraft dieser und nach der Art der von dieser früher erworbenen Einsichten eingehen. Diese Bedingungen klar zu erkennen und von dem Evangelium von Christus zu scheiden ist das unabweisliche Recht historischer Forschung und ein tiefes Bedürfnis des Glaubens. Die Bibel hört zwar dann auf, die von Gott unmittelbar schriftlich erteilte Offenbarung, der Kodex fix und fertiger Erkenntnisse zu sein; sie wird die Urkunde geschichtlicher Thatsachen, durch welche Gott sich als den Vater zur Erlösung und Beseligung seiner Kinder bezeugte, eine Urkunde, deren Wert und Zuverlässigkeit unter der gerade vom Glauben zu fordernden Prüfung durch die Wissenschaft nur deutlicher hervorstechen wird. „Ein jeder,“ sagt Kawerau, „der von dieser theologischen Weiterentwicklung ergriffen worden ist, wird mit Freude und Dank gegen Gott bekennen, daß ihm sein Bibelbuch dadurch nur reicher und lebensvoller geworden ist, daß er dabei gewonnen und nicht eingebüßt hat.“ Und neben diesen Ausspruch stelle

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Friedrich Meyer: Die Kirche und die moderne Zeit. Georg Wigand, Leipzig 1898, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedrich_Meyer_-_Die_Kirche_und_die_moderne_Zeit.pdf/16&oldid=- (Version vom 18.7.2016)