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die dem Polyphem gleich nur ein Auge für die alte Auffassung haben und von sicherem Ufer aus nach dem Odysseus der modernen Forschung ihre Felsstücke schleudern sollten. Aber auch der Staat wird Polypheme aus dem Sagenkreis des Homers nicht in die Gegenwart setzen, und wollte wirklich einer die Rolle des einäugigen Riesen spielen, so würden auch die von ihm geschleuderten Felsstücke vielleicht geräuschvoll hinter, aber nicht zerstörend auf das Schiff der Wissenschaft fallen.

 Die Spannung zwischen der Kirche und dem Gedankenkreis des sich neigenden Jahrhunderts ist vorhanden; daß sie noch nicht sich gelöst hat, wird mit Unbehagen empfunden. Gewiß ist dies Gefühl erklärlich; aber richtiger und christlicher ist es doch, der gestellten Aufgabe sich zu freuen, und um so mehr sich zu freuen, je schwieriger sie sich anläßt. Mir giebt das Wort des Paulus: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber“ das Auge auch für die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung. Was immer die Welt auf der Bahn der Jahrhunderte an eigenem Leben und eigenen Gedanken aus sich herausstellt, ist dazu bestimmt, in das Eigentum und den Dienst Gottes aufgenommen zu werden, oder wäre es dazu zu spröde oder zu wertlos, als ein Nebelgebilde wieder zu verschwinden; das Christentum ist das geschichtliche Mittel Gottes, durch welches er sich aneignet, was nach und nach aus den Tiefen des Geistes aufbricht. Ich sehe keinen Grund, warum man an dem Erfolg dieser Arbeit an der modernen Zeit verzweifeln sollte; auch in ihr wird die Kirche ihre segensreiche Stätte behaupten.

 Freilich muß sie die richtige Stellung zu der anderen Würdigung der Welt und ihrer Güter, wie sie unsre Tage üben, und zu dem neuen Weltbild finden, das in seinen Grundzügen die Wissenschaft fertig gezeichnet hat. Von der praktischen Schätzung, ja Überschätzung der irdischen Dinge wird der Kirche kaum ernste Gefahr drohen. Die asketische Auffassung, der unsre Zeit bewußt und entschieden sich abkehrte, gehört nicht zum Wesensbestand des Christentums. Aber doch gilt dieses manchen mit seiner Betonung des Jenseits,

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Friedrich Meyer: Die Kirche und die moderne Zeit. Georg Wigand, Leipzig 1898, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedrich_Meyer_-_Die_Kirche_und_die_moderne_Zeit.pdf/12&oldid=- (Version vom 24.7.2016)