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ist dann ein weites Gewissen ein solches, welches es mit der sittlichen Forderung nicht genau nimmt (Eph. 5, 15: ἀκριβῶς περιπατεῖν), sondern gegen sich Nachsicht übt auch bei Abweichungen von der Regel des göttlichen Gesetzes. Das ist die sträfliche Indulgenz, die laxe Beurteilung; man sieht sich durch die Finger. Das zarte Gewissen ist einem Haarseiher zu vergleichen, das laxe oder weite Gewissen aber einem weiten Seiher, der auch Kamele durchläßt, nicht nur Mücken.


§ 29.
Das Gewissen in dem Zustande des Menschen vor dem Fall und nach dem Fall in seinen einander entgegengesetzten Bethätigungen und die Bedeutung des noch vorhandenen Gewissens für die gefallene Menschheit.

 Daß der Mensch auch im Zustande der Unschuld ein Gewissen gehabt habe, unterliegt keinem Zweifel. Wenn das Gewissen zur ethischen Anlage des Menschen gehört, ja das Hauptstück derselben ist, so ist es der Natur des Menschen wesentlich und kann ihm nie und nirgends fehlen. Es gibt sich auch bei der Versuchung deutlich zu erkennen, Gen. 3, 2-3. Das Weib hat das Bewußtsein, es müsse das Gebot halten. Was noch jetzt unaustilgbar bei uns ist, das Gefühl und Bewußtsein der Gottesnähe, (Akt. 17, 29) und des Bewegtwerdens und Seins unseres Lebens in Gott (v. 28), muß der erste Mensch auch gehabt haben, aber in unmittelbarer Weise und ohne den Gegensatz gegen Gott, in dem wir uns befinden, und den Widerspruch der bösen Neigung und ohne das Gefühl der Unseligkeit, das daraus erwächst. Es war sein Wille und sein Gewissen, sein Selbstbewußtsein und sein Gottesbewußtsein im vollen Einklang. Das verpflichtende „du sollst“ fand stets ein bereites „ich will“; die richtende Thätigkeit des Gewissens war stets eine anerkennende, lobende; daher konnte es ihm nicht fehlen an der friedvollen Seligkeit, welche der Lohn der Übereinstimmung des menschlichen Verhaltens mit dem göttlichen Willen ist. Seine Erscheinungsform war die eines guten und seligen Gewissens und zwar in völlig ungetrübter Weise.

 Durch den Sündenfall und nach demselben ist alles anders geworden. An der Substanz zwar und an seinem Wesen kann das Gewissen keinen Schaden gelitten haben; denn das, was unter allen Wandlungen beharrlich stehen bleibt, ist eben das Wesen einer Sache. Das Gewissen ist wesentlich in seiner Ganzheit noch vorhanden, die Verderbnis trifft nur das Accidentielle. Darin liegt die Möglichkeit