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 Auch die übernatürliche Offenbarung, obwohl sie in ihrer Objektivität vom Gewissen völlig unabhängig ist, hat nur Kraft und Bedeutung, sofern sie sich in unserm Gewissen kundgibt, d. h. durch unser Gewissen hindurchgeht, durch das Medium des Gewissens sich dem übrigen Vermögen des menschlichen Geistes vermittelt. Erst wenn uns das Evangelium Gewissenssache geworden ist, übt es die erneuernde Kraft, und das Gesetz wird erst dann in uns lebendig, wenn es in unser Herz geschrieben ist. Es muß sich die subjektive und objektive göttliche Offenbarung, die natürliche und übernatürliche zu einer Einheit zusammenschließen, wenn Gottes Absicht erreicht werden soll.


§ 24.
Die erste abgeleitete (sekundäre) Funktion des Gewissens: die verpflichtende.

 Wenn das Gewissen seine primäre Funktion geübt, d. h. die Forderung des Sittengesetzes bezeugt und bejaht hat, so tritt es in seine sekundären Funktionen ein. Die erste abgeleitete Funktion ist die verpflichtende. Das Gewissen verpflichtet den Willen, sich der Forderung des Sittengesetzes zu unterwerfen. Handelt es sich um das Thun von etwas Gebotenem, so treibt das Gewissen den Willen an zur Erfüllung seiner Pflicht (impellere); im entgegengesetzten Falle, wo es sich um die Unterlassung von etwas Verbotenem, Sündlichem handelt, hält es zurück und warnt (deterrere). Die Verpflichtung, die von dem Gewissen dem Willen auferlegt wird, ist kein physischer Zwang, sondern eine ethische Notwendigkeit, kein Müssen, aber ein Sollen. Das ist eben das Wesen der Verpflichtung: Gebundenheit in der Freiheit, und Freiheit in der Gebundenheit; so Röm. 13, 5; 1. Kor. 9, 16; Luk. 17, 10; Matth. 23, 23; Jak. 3, 10; es muß aber festgehalten werden, daß die Gewissenspflicht immer persönlicher, individueller Natur ist, doch absolut bindend für das betreffende Subjekt, dagegen nicht oder nicht in dem gleichen Maße für andere, 1. Kor. 10, 29–30; Röm. 14, bes. v. 14–23. Daher geschieht die letzte Berufung auf das eigene Gewissen (Luther in Worms).

 Es gibt Ethiker, welche die Gewissenspflichten auf alle und jede Handlungen ohne Unterschied ausdehnen und für alle die gleiche sittliche Nötigung verlangen. Damit heben sie das Gebiet des Erlaubten ganz auf. Es gibt aber ein Gebiet des Erlaubten, auf dem der Mensch die Wahl hat zwischen verschiedenen Handlungsweisen. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Wahl nicht um den Gegensatz von Gut und Bös, sondern um den Unterschied von gut und besser, 1. Kor. 7, 37–38. Dabei ist zu bemerken, daß der Begriff „gut“ hier nur in